Meine Kindheit in Wien

 

In der Nacht des 27. November 1924 war es kalt in Wien. Die Straßen waren verschneit. Sechszehn Monate nach der Geburt meiner Schwester Erika entbanden Dr. Koch, unser Hausarzt, und eine Hebamme meine Mutter von ihrem zweiten Kind. Der Arzt beglückwünschte sie und sagte ihr, dass das Kind sehr gut entwickelt wäre, wie ein Säugling acht Tage nach der Geburt, worauf sie sehr stolz war. Unsere Mutter war gerade dreiundzwanzig Jahre alt. Wahrscheinlich machen Ärzte jungen Gebärenden häufig solche Komplimente.

Mein Großvater mütterlicherseits war zwei Jahre vor meiner Geburt gestorben. So erbte ich ganz selbstverständlich seinen Vornamen Paul, „Pessach“ das hebräische Wort für Passah. Die englische Übersetzung „Passover“ gefällt mit besser (etwas überwinden). Die Hindernisse, die ich während meiner Jugendzeit zu überwinden haben sollte, stellten sich als zahlreich heraus!

Meine Mutter erzählte mir oft voller Bewunderung von ihrem Vater. Aufgrund ihrer Erzählungen habe ich mir von ihm ein Bild gemacht, das ihn als starken, großen und vor allem sehr klugen Mann zeigte. Eine der Anekdoten, die sie mir unter anderen erzählte, beeindruckte mich ganz besonders. Sie ist aufschlussreich, weil sie zeigt, welchen Wert er auf Bildung und Wissen legte.

Mein Großvater Pessach baute Eisenbahnlinien. Dieser Beruf wurde in jener Zeit sehr selten von einem orthodoxen Juden ausgeübt, besonders in Galizien, Teil des Kaiserreichs Österreich-Ungarn. Durch seinen Beruf war er verpflichtet, sich mit seinen Ingenieuren und Technikern etappenweise entlang der verschiedenen Eisenbahnstrecken niederzulassen, um die Arbeiten anzuleiten. Seine Familie begleitete ihn auf seiner Wanderschaft, genauso wie ein Lehrer und Erzieher für seine zahlreichen Kinder. Großvater bezahlte diesen Mann nicht mit „gewöhnlichen“ Banknoten, sondern nach seiner Meinung waren ausschließlich Goldstücke, die damals noch allgemein in Umlauf waren, von ausreichendem symbolischen Wert, um die zu entlohnen, die ihr Wissen an die Kinder weitergeben.

In Wien folgte unser alltägliches Leben dem Rhythmus des Sabbats und der Feiertage. Zur Vorbereitung des Freitagabend arbeiteten meine Mutter und meine Großmutter schon am Donnerstag in der Küche um verschiedene Sorten von Speisen vorzubereiten, wie die „Halah“, ein besonderes Brot. Halah wurde bei uns mit Mohnsamen verziert und zu den berühmten gefüllten Karpfen und dem klassischen Huhn im Topf gegessen. Die Erinnerung an den unübertrefflichen Geschmack des Brotes und auch der Kuchen aus dem Backofen meiner Mutter lässt mir heute noch das Wasser im Mund zusammenlaufen und einem Apfelstrudel oder ähnlichem kann ich einfach nicht widerstehen. Die besonderen Gerüche der Festtagsgerichte, die für den Freitagabend vorbereitet wurden, den Beginn des Sabbat, und die aufgeräumte Atmosphäre, die im Hause herrschte, habe ich nie wiedergefunden...

Die Karpfen stammten hauptsächlich aus der Donau, von der es hieß, dass sie blau wäre. Als Kind habe ich große Anstrengungen unternommen, um die blaue Farbe dieses Flusses zu sehen. Er erschien mir riesengroß, geheimnisvoll, alles — nur nicht blau.

Wenn wir alle um den Esstisch versammelt waren, fühlte ich mich geborgen. An diese Freitagabende habe ich eine Erinnerung wie an ein sich stets wiederholendes Fest. Am Ende der Mahlzeit stimmte meine Mutter mit ihrer melodischen Stimme hebräische Lieder an und wir wiederholten den Refrain im Chor. Sie verfügte über ein großes Repertoire an jüdischen Volksliedern, dem einige Stücke, die mein Großvater Pessach komponiert hatte, hinzugefügt waren. Ich bewahre die Lieder in meinem Gedächtnis und ich singe sie gerne - mit einem Vergnügen, in das sich Wehmut mischt, besonders zu Passah, - begleitet von meiner Frau und meiner Tochter.

Ganz in der Nähe unserer Wohnung in Wien lag ein Park, der in mehrere kleine Grünanlagen aufgeteilt war. Meine Mutter ging mit mir fast jeden Tag dorthin. Eines Tages, als sie sehr angeregt mit ihren Freundinnen plauderte, verlor sie mich aus den Augen. Verzweifelt machte sie sich auf die Suche nach mir. Mir war gar nicht klar, welchen Aufruhr ich ausgelöst hatte und stand am Rande eines Sandkastens, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Mit Neid beobachtete ich, wieviel Spaß die anderen Kinder beim Spielen hatten. Ich hätte so gerne mitgespielt, aber ich wollte mich nicht schmutzig machen — und schon gar nicht wollte ich Sand in meine Schuhe bekommen.

Meine frühe Jugend ist besonders eng mit diesem Park verbunden. Jeden Tag ging ich auf dem Weg zur Schule an den Gittern entlang, die den Park umgaben. In den langen und strengen Wintern wurde auf einer der Flächen eine Eisbahn eingerichtet und nach den Klängen typischer Wiener Musik lief ich Schlittschuh mit meiner Schwester und mit meinen Freunden. Das verschneite Wien, unsere Schlitten mit denen wir auf den abschüssigen Straßen rodelten, unsere Nasen, unsere Ohren, unsere Wangen von der Kälte gerötet, das sind die sorglosen und fröhlichen Bilder dieser wunderbaren Jahre.

Zu Hause war ich ein kleiner Junge, der umsorgt und geliebt wurde. Ich war fast nur von Frauen umgeben: meiner Großmutter, meiner Mutter, ihrer jüngeren Schwester Clara, die sechszehn Jahre alt war und meiner Schwester Erika. Mein Vater, der als Versicherungsvertreter arbeitete, ging morgens früh aus dem Haus und kam erst spät abends zurück. Oft schlief ich dann schon.

Mutter war die einzige, die sich meinen Launen nicht fügte. Ich hielt sie deswegen für ziemlich streng. Dabei war sie sanft, liebevoll, für Späße durchaus zu haben. Oft hörte ich sie laut heraus lachen, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen war.

Mit drei Jahren bildete ich mir ein, nicht mehr größer zu werden, und mir schien es, dass meine Großmutter immer kleiner werden würde. Tatsächlich war sie nicht besonders groß. Daraus zog ich den Schluss, dass sie eines Tages meine Größe erreichen würde und nicht umgekehrt. Eines Tages zerbrach ich eine der Nippesfiguren, von denen meine Mutter ziemlich viele besaß. Ich hatte eine Tracht Prügel verdient. Um meiner Mutter die Strafe auszureden, sagte ich im Brustton der Überzeugung zu ihr:

„Wenn ich eines Tages groß sein werde und du klein sein wirst, dann wirst du schon sehen, wie weh das tut!“

Entwaffnet musste sie lachen und mich liebevoll an sich drücken!

Nur aus Spaß tat sie manchmal so, als ob sie ernsthaft nach einem Rohrstock suchen würde, um mich mit seiner Hilfe zu „erziehen“. Als sie nach meinem Spazierstock griff, protestierte ich empört:

„Nein, doch nicht mit meinem!“

Wir hatten mehrere Stöcke zu Hause, mein Vater benutzte einen Krückstock in Folge seiner Kriegsverletzung. Außerdem waren Spazierstöcke damals Mode. Mein Spazierstock, in dessen Holz Edelweißblüten geschnitzt waren, war ein Andenken an Ferien in Worochta, einem kleinen Bergdorf in den Kaparten, das als Wintersportort bekannt war. Papa war dort geboren. Ich war drei Jahre alt gewesen, als mein Vater und ich diese weite Reise gemacht hatten. Wir brauchten über zwanzig Stunden mit dem Zug, um zu seinen Eltern zu fahren. Neben dem Bauernhof meiner Großeltern war ein Pferdestall. Unter den Pferden befand sich ein Pony. Jeden Tag bin ich reiten gegangen und binnen kurzem entwickelte ich eine große Leidenschaft dafür.

Als wir wieder nach Hause zurück mussten, wollte ich mich nicht von dem Pony trennen. Um mich zu beruhigen, versprach man mir, dass das Tier auch in dem Zug sein würde und dass ich es in Wien wieder bekäme. Dies wurde meine erste große Enttäuschung. Ich hatte den Erwachsenen vertraut, und sie hatten mich betrogen. Noch lange habe ich von meinem zutraulichen Spielkameraden geträumt.

Von dem Aufenthalt blieb mir ein Foto, dass mit den Jahren vergilbt ist. Es zeigt mich, wie ich auf den Knien meines Vaters sitze, vor einem Heuhaufen auf einem der Felder meines Großvaters. Seit damals haben Berge immer eine besondere Anziehungskraft auf mich ausgeübt, weil sie mich an Worochta erinnern. Ich mochte die Stille und dass es dort nach unberührter Natur roch.

Meine Einschulung fand mit fünf Jahren statt, für meinen Geschmack war das etwas früh. Mein Lehrer hieß Rudolph Tretter, hatte ein rundes, freundliches Gesicht und mochte mich sehr.Eines Tages sollte ich eine Schreibübung mit kleinen Kreuzen beenden. Ich weigerte mich, sie zu Papier zu bringen.

„Aber Paul, warum willst du keine Kreuze malen?“

„Weil die Juden keine Kreuze machen dürfen!“

Diese Antwort war wahrscheinlich durch Verhaltensregeln meiner Großmutter angeregt, die ich falsch ausgelegt hatte.

Ein Lehrer kam außerdem zu uns nach Hause, um mich Hebräisch lesen zu lehren.

Während eines Elternabends beglückwünschte Herr Tretter schon bald meine Mutter, dass ich bereits schreiben könne wie ein Großer. Voller Stolz erzählte sie ihren Freundinnen von meiner Meisterschaft, ohne meine Anwesenheit zu beachten. Das Ergebnis war verheerend. Ich zog daraus die Schlußfolgerung: wenn ich schon schreiben könne wie ein Großer, dann brauchte ich mich nicht mehr anzustrengen. Seit dem fanden nur noch die Lektionen, die mich wirklich interessierten, meine Aufmerksamkeit. Meine Eltern und Herr Tretter waren von diesem plötzlichen Wechsel sehr überrascht, weil sie wußten, dass ich weit mehr leisten konnte. Von da an tauchte die Bemerkung „könnte besser sein“ oft unter meinen Aufgaben auf.

Eines Tages blieb meine Mutter im Bett, weil es ihr nicht gut ging. Ich fragte sie, wie ich ihr einen Gefallen tun könne.

„Ich würde gerne eine Apfelsine essen,“ antwortete sie.

Wir hatten keine Apfelsinen zu Hause und so lief ich schnell zu unserem Kaufmann, um welche zu holen. Im Laufen schälte ich eine der Orangen, weil ich sie ihr sofort nach der Rückkehr anbieten wollte. Nie werde ich den liebevollen Blick vergessen, mit dem sie ihren kleinen Jungen ansah. Erst als ich erwachsen geworden war, habe ich verstanden, warum eine solch einfache Geste sie so bewegen konnte.

Stundenlang konnte ich mich in das Spiel mit meinem „Schatz“ versenken, den ich in einem Kästchen angesammelt hatte. Er bestand aus einem ziemlichen Sammelsurium von Schnüren, Draht, Holzstücken, Nägeln, Schrauben, Muttern... alles eigentlich zum Wegwerfen bestimmt und von mir als Kostbarkeit wiederverwertet.

In der Familie hatte ich einen Ruf als „Heimwerker“. Eines Tages bat mich unsere Nachbarin Frau Farb, eine Kriegerwitwe, die leichtgläubig und wohl auch etwas geizig war:

„Paulchen, mein Wecker geht nicht mehr. Kannst du ihn reparieren?“

„Aber natürlich, geben Sie ihn mir.“

Angesichts meiner Forschheit vertraute sie mir dummerweise. Das Auseinandernehmen war kinderleicht, das Zusammensetzen unmöglich! Völlig beschämt gab ich ihr den Wecker in seinen Einzelteilen zurück. Wütend beklagte sie sich bei meiner Mutter, die aufmerksam zuhörte und zur meiner Verteidigung mit einem kaum verhohlenem Lachen sagte:

„Aber hören Sie mal, wie konnten Sie nur glauben, dass Paulchen ihren Wecker reparieren könnte. Er ist ein Kind.“

Die Schule wurde schwieriger. Um meinen Eltern eine Freude zu machen, versuchte ich, mich mehr anzustrengen. Wenn meine Noten schlecht waren, nutzte ich die mangelnde Strenge meines Vaters aus, indem ich ihm am Morgen, kurz bevor er aus dem Haus mußte, die Nachrichten meiner Lehrer zur Unterschrift hinhielt. Normalerweise sagte er mir:

„Das kann doch warten. Wir schauen uns das heute abend gemeinsam an.“

Ich aber wußte, dass er das bei seiner Rückkehr schon längst vergessen zu haben schien... Er bestrafte mich selten. Die Erziehung der Kinder überließ mein Vater unserer Mutter. Dabei vertraute er vollständig darauf, dass sie das schon gut machen würde.

1933 fuhren wir zum letzten Mal in die Ferien nach Worochta. An meinen Großvater väterlicherseits, Jakob, erinnere ich mich als einen alten Mann, der oft an dem Tisch des großen Zimmers saß, das als Esszimmer diente. Stundenlang versenkte er sich in dicke Bücher, um den Talmud zu studieren, während er sich mechanisch über den Bart strich. Von Zeit zu Zeit knuffte er mich freundlich in die Backe, nahm mich auf die Knie und stellte mir Fragen, um meine Kenntnisse in Hebräisch zu prüfen. Das war mir furchtbar unangenehm und ich tat alles, um diese Situation zu vermeiden.

Meine Großmutter Feiga war eine schlanke und energische Frau. Einen Teil des Tages verbrachte sie in ihrem Gemischtwarenladen, der neben dem Haus lag. Außerdem kochte sie für ihre Kinder und einen ganzen Haufen Enkel.

Ihr Geschäft war ein „Tante Emma – Laden“ wie man ihn heute manchmal noch auf dem Lande sieht. In den Regalen konnte jeder finden, was er brauchte. Das konnten Lebensmittel sein oder Nähzeug, bis hin zu großen Lederstücken, die man brauchte, um Schuhe zu reparieren.

Eine Ecke war besonders bei den Kindern des Dorfes beliebt. Dort gab es ein glattes Holzbord mit vielen Löchern, die von geblümtem Papier verdeckt waren. Hinter jedem Loch befand sich eine verschiedenfarbige Kugel. Wenn man das Papier mit Hilfe eines Röhrchens durchstieß konnte man - je nach Farbe der Kugel - Bonbons, Schokolade oder andere Süßigkeiten herausfischen.

Im Souterrain gab es einen Schuster, der wie die meisten frommen Männer, einen Bart trug. Er machte ihn älter, als er wirklich war. Der Schuster beeindruckte mich, weil er einen hölzernen Modellfuß besaß, wie ich ihn noch nie vorher gesehen hatte. Ich bewunderte den Mann, weil er selbst stark abgetragene Schuhe reparieren konnte. Die ganz Armen, die nur ein einziges Paar Schuhe besaßen, warteten geduldig in seinem Laden, bis sie mit den fertigen Schuhen wieder gehen konnten. Während dieser Zeit wurde lebhaft diskutiert, was häufig damit endete, dass man ein Zitat aus dem Talmud erörterte. Das brachte mich zu der Überzeugung, dass der Schuster und seine Kunden Gelehrte sein müssten.

Von der väterlichen Seite meiner Familie erinnere ich mich ganz besonders an den jüngeren Bruder meines Vaters. Max, ein kräftiger Bursche, kümmerte sich um den Hof. Wenn es am Samstag in die Synagoge ging, setze er sich seinen kleinen Neffen aus Wien auf die Schultern, damit der seine weißen Söckchen und seine Lackschühchen nicht mit dem Schlamm einer nicht-asphaltierten Straße beschmutzte. Max hatte zahlreiche Schwestern, die alle verheiratet waren und wiederum mehrere Kinder hatten. Nur die jüngste, Dora, war ledig. Wie schön waren doch diese großen Familien von früher!

Unglücklicherweise weiß ich nicht mal ihre Namen und ich nahm nicht wahr, was mit ihnen während der Shoah geschah. Wahrscheinlich sind sie, wie Tausende andere auch, untergegangen — ausgelöscht wie alle Gemeinden in diesen Städten und Dörfern mit deren Zerstörung auch die Kultur des östlichen Judentums, die Sitten und Gebräuche der Menschen und ihr unersetzlicher Humor verloren ging. Heute gibt es nur noch die Erinnerung im Tal der verschwundenen Gemeinden in Yad Vashem in Jerusalem, wo die Namen aller dieser europäischen Orte in Stein gemeißelt sind.

Von der Familie meiner Mutter hat Tante Clara überlebt, die hochbetagt in Florida wohnt. Außerdem zwei Cousins: Max, der mehrere Jahre in Konzentrationslagern verbringen mußte, und Bert, der in Kalifornien lebt. Ironie des Schicksals: sein Bruder Paul, Soldat in der amerikanischen Armee, starb bei der Landung der alliierten Streitkräfte an der Küste der Normandie.

Fußball war eine meiner Leidenschaften. Meine Freunde und ich waren begeisterte Anhänger der ausgezeichneten jüdischen Mannschaft „Hakoah“. Bei den Spielen kam es regelmäßig zu Rangeleien zwischen den gegnerischen Teams und auch zwischen den Fans. Als die Mannschaft 1933 zu Spielen in die Vereinigten Staaten eingeladen wurde, zog es fast die Hälfte der Spieler vor, dort zu bleiben. Angesichts der Ereignisse, die sich in Europa abspielen sollten, war das eine gute Entscheidung.

Wie die meisten Kinder log ich manchmal und wurde dafür bestraft. Ein Vorfall blieb mir besonders im Gedächtnis. Ich war damals zehn Jahre alt und es war die Zeit des Chanukka-Festes, das acht Tage lang dauert. Den Kindern schenkte man damals kleine Kreisel, die aussahen wie Würfel, durch die ein Stil mit einer Spitze ging. Auf den Seitenflächen standen die hebräischen Buchstaben N, G, H und C, Abkürzungen für den Satz „ein Wunder geschah dort (in Jerusalem)“, was an den Ursprung des Festes in der jüdischen Geschichte erinnert. Schon während des ersten Tages verlor ich meinen Kreisel. Ich war arg enttäuscht, und so nahm ich Geld aus meiner Spardose und kaufte mir einen neuen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Als ich am nächsten Tag in Gegenwart meiner Mutter auf dem Fußboden spielte, trudelte der neue Kreisel unter ein Möbelstück, wo ich auch den alten, den ich verloren hatte, fand. Mit den beiden Kreiseln in der Hand schaute ich voller Unbehagen zu meiner Mutter, die überrascht fragte:

„Nanu, wieso hast du jetzt zwei Kreisel?“

„Nun, Sammy hat mir seinen gegeben.“

„Das ist sehr nett von deinem Freund Sammy, aber nun hat er keinen? Ich glaube nicht, dass du mir die Wahrheit sagst.“

Ich errötete schon immer schnell und angesichts dieser Lüge wurde ich feuerrot. Die Strafe fiel hart aus. Nach so vielen Jahren erinnere ich mich noch daran. Ich habe niemals mehr gelogen.

Kurze Zeit später erklärte sie mir eine goldene Regel:

„Es ist verboten zu lügen, aber man muss auch nicht immer alles sagen.“

Ich brauchte einige Zeit, um diesen Rat anzunehmen, der mir ein Widerspruch zu ihren Erziehungsprinzipien zu sein schien. Später begriff ich, wie wohl begründet er war.

Alles änderte sich zu Beginn des Jahres 1934. Es gab zunächst einen längeren Stromausfall, der politische Veränderungen ankündigte. Es folgte eine Art Bürgerkrieg mit Morden und Verhaftungen. Der Kanzler Engelbert Dollfuß errichtete ein autoritäres Regime, das die sozialdemokratische Partei ablöste, die das Land seit der Niederlage von 1918 und dem Zusammenbruch des österreich-ungarischen Kaiserreichs regiert hatte. Der österreichische Antisemitismus, der unter der Oberfläche stets vorhanden gewesen war, trat nun offen in Erscheinung. Der Einfluss Deutschlands, wo die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernommen hatten, trug wesentlich zu dieser Entwicklung bei.

Seit dem erfuhr ich, was Rassismus bedeutet. In den Schulpausen wurden die Raufereien zwischen den Schülern immer häufiger und immer heftiger. Mein Deutschlehrer, ein Dr. Siegel, sah mir keinen einzigen Fehler in der Satzbildung mehr nach. Wenn mir der kleinste Irrtum unterlief, zog er mich am Ohr von meinem Platz hoch und ahmte den jiddischen Wortklang nach. Diese Art und Weise den jüdischen Akzent zu parodieren, war weit verbreitet.

Die wenigen Glücksmomente, die ich an dieser Schule noch hatte, verdankte ich meiner Französischlehrerin. Meine Schwester hatte schon seit einem Jahr Französisch und ich wußte, dass ich auf sie zählen könnte, wenn es darum ging, meine Hausaufgaben zu machen. Dies trug ein wenig dazu bei, dass ich Französisch als meine zweite Sprache wählte.

Fräulein Sylvestre war jung, schön und ein wenig eitel. Während des Unterrichts trug sie oft einen Hut. Einer ihrer Hüte hatte einen Bommel, der mich faszinierte und sie in meinen Augen noch verwirrender machte. Tatsächlich hatte ich mich in sie verliebt und sie hat es bestimmt mitbekommen. Es dürfte sie belustigt und mir gegenüber milde gestimmt haben.

Zu meiner großen Freude schenkte sie mir ein kleines Buch mit französischen Liedern, aus dem ich unter anderem lernte „Marlborough s' en va-t' en guerre ...“ Um ihr zu gefallen, lernte ich besonders fleißig, ohne zu ahnen, dass Französisch mir einmal sehr nützlich sein könnte.

1936, ich war inzwischen zwölf Jahre alt, schloss ich mich einer zionistischen Jugendgruppe an. Wir nahmen an der jährlichen Gedenkveranstaltung an den Tod von Theodor Herzl, Journalist und Schriftsteller, teil. Er hatte die antisemitische Affäre um den Hauptmann Alfred Dreyfuß in Paris verfolgt und angesichts dieser empörenden Ungerechtigkeit entwickelte er den politischen Zionismus. Herzl war im Alter von 44 Jahren an Erschöpfung gestorben. Er hatte sein Leben der zionistischen Sache geopfert, ihr Leib und Seele verschrieben — in der Hoffnung, dass sie eines Tages Wirklichkeit werden könnte. Eines seiner Bücher beginnt mit: „Wenn ihr es wollt, ist es kein Traum.“ Auf dem Rückweg vom Friedhof wurden wir von einer Horde junger Faschisten angegriffen. Trotz unserer Schreie und Hilferufe stand uns niemand bei. Die Leute wandten sich ab und gingen weiter.

Wegen der allgemeinen Verunsicherung war es mir in den Jahren 1934 bis 1938 verboten, mich allzu weit von zu Hause zu entfernen. Meine Welt war unser Stadtviertel. Während dessen verzichteten wir aber nicht auf unsere Familienspaziergänge auf der berühmten Hauptallee des Wiener Praters, wo wir auf den Kaffeeterrassen einkehrten, um  heiße Schokolade mit einer großen Portion Schlagsahne zu trinken. Dazu gab es das typische Wiener Gebäck. In den Musikpavillons spielten Orchester die unvergänglichen Strauß-Walzer und klassische Melodien, wie das „Liebesleid“ von Fritz Kreisler. Erikas und meine größte Freude war es, eine Runde in den Waggons des großen Riesenrades zu drehen, von denen aus man die Stadt bewundern konnte.

An den Sonntagen im Sommer spielte ich mit meinen Freunden Ball im Überschwemmungsgebiet. Das war eine große Fläche, die überflutet wurde, wenn die Donau bei Hochwasser über die Ufer trat. Oder ich ging zum Schachspielen in die Grünanlage gegenüber von unserem Haus. Auf den Bänken trug ich unzählige Partien meines Lieblingsspiels aus.

Später stand auf denselben Bänken:

„Für Juden verboten. Nur für Arier.“

Ein Jahr vor dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland, kam ein guter Freund meiner Eltern zu Besuch, um uns mitzuteilen, dass er nach Palästina gehen würde. Als er uns verließ, zeigte er sich sehr besorgt um unsere Zukunft. Mein Vater, der ein überzeugter Zionist war, begrüßte zwar den Entschluss des Freundes zur Auswanderung, fand seinen Pessimismus jedoch reichlich übertrieben.

Das Datum meiner Bar-Mitzwa-Feier kam näher. Jeden Tag, wenn ich aus der Schule kam, hatte ich eine Stunde Hebräisch. Meine Großmutter war immer dabei, unauffällig in einer Zimmerecke sitzend, folgte sie meinem Unterricht. Meine Volljährigkeit im religiösen Sinne sollte in der Synagoge an einem Samstagmorgen im November 1937 gefeiert werden. Ich war sehr schüchtern und hatte größte Angst, während der Gebete Fehler zu machen. Aber was ich am intensivsten vorbereitete, war die traditionelle Lesung, die ich danach zu halten hatte. Den strahlenden Gesichtern meiner Eltern und meiner Großmutter entnahm ich zu meiner Erleichterung, dass ich diese Prüfungen bestanden hatte.

Was ich am Schönsten fand, war zu sehen, wie meine Großmutter offensichtlich voller Freude und Stolz war - sie, die sich sonst so zurückhaltend zeigte. Ich wusste, dass ich ihr Lieblingsenkel war. Sie segnete mich oft. Aber an jenem Tag tat sie es mit ganz besonderer Inbrunst. Erst später ist mir das zu Bewusstsein gekommen und mir wurde klar, wie wichtig ihr Segen für mich war.

Unter den üblichen Geschenken, die ich bekam, waren zahlreiche Bücher, mehrere Füller, vier Schachspiele, ein Ping-Pong-Spiel und vor allem eine Uhr, die ich mir sehr wünschte und die meine Großmutter mir versprochen hatte. Monatelang auf eine Armbanduhr warten, sie über Jahre zu tragen und sie das ganze Leben lang sorgsam zu behandeln, scheint heute eher etwas Komisches zu sein. Für die Kinder, die mit billigen Plastikuhren aufwachsen, ist das klassische Geschenk der Großeltern entwertet worden.

Meine Großmutter nimmt einen besonderen Platz in meinem Leben und in meiner Erinnerung ein. Für mich empfand sie eine Zuneigung, die keine Grenzen kannte. Mit den Jahren schwanden jedoch ihre Kräfte. Ich kannte sie mit einem immer etwas traurigen Blick – traurig wie der Beginn ihrer Lebensgeschichte.

Mit sechszehn Jahren hatte sie bei einem Pogrom, wie es seinerzeit – von der zaristischen Regierung geduldet – damals regelmäßig vorkam, ihre Eltern verloren. Die bewaffneten Kosaken-Horden kamen zu Pferd, plünderten, vergewaltigten die Frauen, und hinterließen das jüdische Viertel in Schutt und Asche. Sie war von einem mürrischen Onkel aufgenommen worden, der sie dazu brachte, einen Mann zu heiraten, der viel älter war als sie und außerdem auch noch krank. Er starb kurz nach ihrer Eheschließung. Sie nahm ihren Mut zusammen und floh zu einer anderen Verwandten in einem Nachbardorf. Dort wurde ihr ein junger Witwer, der bereits zwei Kinder hatte, vorgestellt. Das war mein Großvater Pessach. Sie haben sich schon beim ersten Treffen gemocht. Er hat ihr einfach gesagt, dass sie aufhören müsste, sich zu grämen und dass sie seine Frau werden sollte. Diese zweite Heirat brachte ihr endlich häusliches Glück. Zu den beiden Kindern aus der ersten Ehe meines Großvaters kamen noch drei Söhne und vier Töchter. Das ergab eine ganz schön große Familie mit vielen Enkelkindern.

Drei Monate nach meiner Bar-Mitzwah, am 12. März 1938, brach der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland über uns herein wie ein großes Unwetter. Dieses war das Ende unseres vorher doch recht beschaulichen Lebens.

Mein Vater und ich verfolgten mit angespannter Aufmerksamkeit den Ablauf der Ereignisse, besonders die Reise von Kanzler Schuschnigg nach Deutschland. Kurt Schuschnigg war der Nachfolger von Engelbert Dollfuß, der 1934 während eines Putschversuches der österreichischen Faschisten ermordet worden war. Nach seiner Rückkehr vom Obersalzberg bei Berchtesgaden, Adolf Hitlers Quartier in Bayern, hatte Schuschnigg beträchtliche Anstrengungen unternommen, um eine Volksabstimmung zu organisieren, bei der man für oder gegen den Anschluss Österreichs an das von Hitler beherrschte Deutschland stimmen sollte. Die österreichischen Antifaschisten versuchten den Anschluss zum Scheitern zu bringen. Viele Anti-Nazi-Plakate wurden auf die Mauern geklebt, Parolen wurden sogar auf die Bürgersteige gemalt. Aber noch bevor eine Abstimmung durchgeführt werden konnte, wurde Österreich von den Deutschen annektiert.

Einige Tage später zwang man die Juden – mit Eimern und Bürsten ausgerüstet – die Gehsteige zu säubern und die Plakate abzureißen. Die Spuren der antifaschistischen Parolen sollten verschwinden. Diese Erniedrigung, die in allen Stadtvierteln von der Hitlerjugend und der SA organisiert wurde, war von Hohn und Spott begleitet. Dann wurden die Gesetze eingeführt, die Juden die Ausübung vieler Berufe untersagten. Die frei werdenden Stellen wurden schnell mit „Ariern“ besetzt. Die Mehrheit schien sich mit der Übernahme Österreichs bequem einzurichten.

Viele Österreicher entschlossen sich, den wichtigen Beitrag, den ihre jüdischen Mitbürger zur kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes seit dem 10. Jahrhundert geleistet hatten, zu vergessen.

Hitlers wohlbekannte Absicht das „Reich“ (zudem jetzt auch Österreich gehörte) „judenfrei“ zu machen, wurde nun in die Praxis umgesetzt. Zu den Juden wurden auch die Menschen jüdischer Herkunft gezählt, die Mitglied einer anderen Religionsgemeinschaft geworden waren, sowie die Kinder aus Mischehen.

Die Bücher jüdischer Autoren und derjenigen, die nicht mit der Nazi-Ideologie übereinstimmten, wurden nun auch in Österreich systematisch verboten. Die Werke, die untrennbar mit der deutschen Kultur verbunden waren, erhielten die Bemerkung „Autor unbekannt“. Mein Lieblingsdichter Heinrich Heine (1797-1856) wurde einer dieser „Unbekannten“. Alle seine Werke wurden verbannt — mit Ausnahme des berühmten Gedichtes „Die Loreley“, das man in der Schule lernte und aus dem man ein Volkslied gemacht hatte. Heine sprach übrigens ausgezeichnet Französisch. Er lebte viele Jahre in Paris, wo er auch begraben wurde.

Sofort begannen die Verhaftungen von Juden und Gegnern der Nationalsozialisten. Sie wurden in das Konzentrationslager Dachau, zwanzig Kilometer von München entfernt, gebracht. Die Freimaurer, die Sozialisten, die Kommunisten, die Intellektuellen, die man für gefährlich für das Regime hielt, kamen in die Konzentrationslager, ob sie nun Juden waren oder nicht. Einige begingen Selbstmord, um nicht in die Hände der Nazis zu fallen. Wir begannen das Schlimmste zu fürchten, als Frau Friedmann, die in unserem Haus wohnte, eine Urne mit der Asche ihres Sohnes erhielt. Der Mitteilung nach sollte er bei einem Fluchtversuch aus dem Lager erschossen worden sein.

Zu Beginn des zweiten Halbjahres wurden die jüdischen Schüler in die hinteren Bänke der Klasse verbannt. Kurz danach durften sie nur noch rein jüdische Schulen besuchen. Natürlich war das kein Klima, in dem man normal lernen konnte. Wir waren viel zu sehr durch die aktuellen Ereignisse in Anspruch genommen.

Auf die Initiative des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt wurde in Evian eine internationale Konferenz einberufen. Sie war ein Fehlschlag: unter den 32 anwesenden Staaten war keiner, der sein Kontingent an zugelassenen Flüchtlingen erhöhen wollte. Das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“ titelte höhnisch: „Juden billig abzugeben. Keiner will sie haben“. Was man aber am meisten kritisieren kann, ist die Begrenzung der jüdischen Zuwanderung nach Palästina, die von Großbritannien, dem damaligen Mandatsträger des Völkerbundes über dieses Gebiet, angeordnet worden war. Hitler schloss aus der internationalen Reaktion, dass er mit den Juden machen konnte, was er wollte. Niemand würde sich darum kümmern. Aber er brauchte einen Vorwand.

1938 brachte man Juden polnischer Herkunft unter Zwang an die Grenze. Die Polen lehnten die Einreise der Juden kategorisch ab; die Deutschen wollten sie nicht wieder aufnehmen. So mussten die Juden im Grenzgebiet ohne das Notwendigste kampieren. Am 7. November 1938 wurde ein Attentat auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris Ernst vom Rath verübt, das die ganze Sache weiter anheizte. Es war ein junger deutsch-polnischer Jude, Herschel Grynspan, der auf den deutschen Diplomaten geschossen hatte. Er wollte gegen die Abschiebung von 15 000 Juden polnischer Herkunft nach Polen protestieren. Auch seine Eltern befanden sich unter den Menschen, die von den deutschen Behörden auf so menschenverachtende Weise behandelt worden waren.

Seit dem 8. November wurde ein großes Pogrom vorbereitet, das Angst und Schrecken über die meisten deutschen und österreichischen Städte bringen sollte. Der Drahtzieher war Joseph Goebbels, Reichspropagandaminister. Als der Tod des vom Rath am Abend des 9. November 1938 festgestellt wurde, gab Goebbels das Startsignal. Hunderte von Synagogen wurden geschändet und in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte, Häuser und Wohnungen wurden geplündert und verwüstet. Thorarollen, Gebetbücher und Gemeindearchive wurden auf Scheiterhaufen verbrannt, wie schon vorher die Schriften so bekannter Wissenschaftler und Autoren wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Thomas und Heinrich Mann, Kurt Tucholsky und vieler anderer. Den prophetischen Kommentar zum Thema Bücherverbrennen hatte Heinrich Heine bereits 1820 geschrieben: „Das war ein Vorspiel nur. Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“

Das traurige Ereignis erhielt den Namen „Kristallnacht“. Der Name erinnert an die Reinheit von Kristall. Man könnte denken, es hätte sich um einen festlichen Anlass gehandelt, dabei bezieht sich das Wort auf das zersplitterte Glas der Schaufensterscheiben auf dem Boden — deswegen spricht man auch besser von dem „Novemberpogrom“. Das ganze zog sich über mehrere Tage hin und wurde vor allem von der SA mit Unterstützung der Polizei durchgeführt.

Diese Nacht kündigte den Anfang vom Ende vieler jüdischer Gemeinden in Europa an. Es gab eine neue große Verhaftungswelle. Auch mein Vater wurde festgenommen, jedoch nach wenigen Tagen schon wieder freigelassen. Wahrscheinlich lag das daran, dass er Soldat gewesen war und als Kriegsversehrter des Ersten Weltkrieges galt.

Immer größere Teile jüdischer Vermögen wurden nun eingezogen und den Juden wurde mit dem den Nationalsozialisten eigenen Zynismus eine besondere Judenabgabe von einer Million Reichsmark auferlegt. Mit dem Geld  – so hieß es – sollten die Schäden beseitigt werden, die von der entfesselten SA angerichtet worden waren.

Es wurde immer schlimmer. Wir lebten ständig in der Angst vor neuen Repressalien. In Deutschland und in Österreich nahm die Mehrheit der Bevölkerung die barbarischen Ereignissen hin. Man kümmerte sich um die eigenen Angelegenheiten und hielt den Mund. Regelmäßig marschierte die Hitlerjugend durch die Straßen. Die Uniformierten skandierten judenfeindliche Parolen und sangen unmissverständliche Lieder:

„Wenn 's Judenblut vom Messer spritzt, dann geht 's noch mal so gut...“

Diese Zeilen waren eine echte Morddrohung. Hoffnung war da nicht mehr angebracht. Die von den Nationalsozialisten vorgesehenen Maßnahmen wurden zunehmend schneller umgesetzt. Es lief auf eine weitere Steigerung der Gewalt hinaus.

Im Rückblick auf diese beklagenswerten Zeiten fällt es mir nicht leicht, meinen Bericht fortzusetzen und mich daran zu erinnern, wie Erika und ich reagierten, wenn mein Vater, damals ein Mann von dreißig Jahren, gutaussehend, groß, mit klaren, hellen Augen, wieder einmal mit allem Nachdruck und in aller Ausführlichkeit über den Ersten Weltkrieg erzählte. Wir hörten scheinbar aufmerksam zu, aber es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, es hätte uns besonders interessiert. Seine Geschichten kannten wir schon auswendig, obwohl das Ganze erst fünfzehn Jahre her war.