Die Lager Tarnowitz und Schopinitz

 

Sehr schnell erwies sich der Mantel meines Vaters als nützlich. In Oberschlesien lag bereits erster Schnee und in den Morgenstunden war die Kälte schneidend. Unsere Gruppe von etwa 250 Männern wurde in das Lager von Tarnowitz geschafft.

Tarnowitz war eines der Zwangsarbeiterlager der „Organisation Schmelt“, benannt nach Albrecht Schmelt, dem „Sonderbeauftragten des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei für fremdvölkischen Arbeitseinsatz in Oberschlesien“. Im Bereich des damaligen Wehrkreises VIII (Schlesien und Sudetenland) betrieb die Organisation Schmelt Mitte 1942 sechsundvierzig Arbeitslager für Juden.

Im Lager Tarnowitz trafen wir von den Nazis Deportierte aus fast allen europäischen Ländern. An einem Ende gab es eine Baracke, die von etwa dreißig Frauen belegt war. Sie waren für den allgemeinen Unterhalt des Lagers und die Küche vorgesehen. Ihre Anwesenheit erweckte in mir die Hoffnung, dass Mutter und Erika sich vielleicht nicht weit von mir unter ähnlichen Bedingungen aufhalten könnten. Das erschien mir logisch. Ich wusste noch nicht, dass hier nichts nach den Regeln des gesunden Menschenverstandes ablief.

Auf der anderen Seite des Gitters, das uns trennte, lächelte mich ein schmächtiges blasses Mädchen an. Wir sprachen von unseren Familien, teilten die Unruhe über unsere Zukunft. Ihr sanfter Blick tröstete mich und ihre Fürsorge in dieser feindlichen Umgebung erinnerte mich an den Segen meiner Großmutter, den sie immer gesprochen hatte, wenn jemand aus der Familie auf Reisen ging:

„Möge das Wohlwollen Deiner Mitmenschen mit Dir sein und Gott Dich beschützen!“

In diesem Moment erkannte ich den tieferen Sinn ihrer regelmäßigen Fürbitte, die mich im Laufe meines Lebens begleitet hat.

Rachel arbeitete in der Küche und bevor wir uns trennten, versprach sie mir, dass sie jeden Abend eine Schale Suppe für mich am Gitter bereitstellen würde. Die langen Tage, die bei Sonnenaufgang begannen und erst endeten, wenn der Abend kam, brachten mich an den Rand der Erschöpfung. Wie tröstlich war es dann die segensreiche Suppe zu finden, die außerdem noch etwas dicker war, als die, die normalerweise verteilt wurde. Nicht ein einziges Mal hat meine kleine Freundin Rachel ihr Versprechen nicht gehalten! Diese zusätzliche Nahrung hat mir ohne jeden Zweifel geholfen diesen ersten Winter und die sechs Monate in Tarnowitz besser durchzustehen. Ich traf sie nur gelegentlich und immer sehr kurz. Ihr Lächeln war eine wertvolle Ermutigung. In ihrer Person fand ich an diesem verfluchten Ort ein wenig Güte und Solidarität.

In Tarnowitz bestand unsere Arbeit darin, auf unseren Schultern Telegrafenmaste zu tragen, sowie Eisenbahnschwellen und Schienen mit denen die Bahnstrecke ausgebessert werden sollte. Wir wurden von einem sogenannten Kapo, das war ein Häftling, der als Aufseher ausgewählt worden war, und einem Vorarbeiter, wahrscheinlich einem gebürtigen Schlesier, überwacht. Letzterer, ein echter Sadist, ließ harte Stockschläge über jeden herabregnen, der auch nur für einen kurzen Moment von der Arbeit aufsah.

Mit bloßem Oberkörper bei Eiseskälte gelang es uns trotz der ununterbrochenen Arbeit nicht, uns aufzuwärmen. Unter diesen unmenschlichen Bedingungen brachen innerhalb kürzester Zeit viele zusammen. Schnell wurde mir klar, dass man diejenigen besonders erbarmungslos behandelte, die als „Intellektuelle“ ausgemacht wurden. In der absonderlichen Denkweise der Nazis wurden Brillenträger so klassifiziert. So sah ich zu, dass ich meine Brille bald los wurde. Durch meine Wiener Vergangenheit kannte ich die Nazis und so gab ich vor, Schreiner zu sein, wie mein Vater. Es mag überraschend klingen, aber der Klassenkampf schien vor den Türen der Hölle nicht aufzuhören.

Ich freundete mich mit Dev, einem Jungen meines Alters, an. Er kam aus Holland und war sehr einsam, weil er nur seine Muttersprache beherrschte und einige Brocken Deutsch. Jeden Abend gab ich ihm etwas von meiner Extra-Suppe ab, die ich von der kleinen Rachel bekam. Er bemühte sich, sie auf dem einzigen, sehr umlagertem Ofen der Baracke aufzuwärmen. Dabei ließ er sie keine Sekunde aus den Augen, sie war so kostbar und es wurde viel gestohlen. Unsere Kameraden drängten sich um den Ofen wenn wir von der Arbeit kamen, um ihre durch den Regen oder den tauenden Schnee durchfeuchtete Kleidung zu trocknen. Einige rösteten Kartoffelscheiben. Sie waren überzeugt, dass diese so mehr Gehalt bekämen und den Hunger besser stillen würden. Wunschvorstellungen wie diese waren Teil unseres Daseins.

Von Zeit zu Zeit gab es Fluchtversuche. Sie waren selten, zum Scheitern verurteilt und die Strafen fielen drakonisch aus. Einer unserer ganz besonders sadistischen Wachleute liebte ein Spielchen, bei dem er einem Deportierten unter irgendeinem Vorwand befahl, sich von der Baustelle zu entfernen. Bald genug wurde dieser durch Schreie und Pfiffe gestoppt und beschuldigt, er hätte fliehen wollen. Einer meiner französischen Freunde wurde so zu fünfundzwanzig Stockhieben verurteilt. Bei dem ersten Schlag schrie er vor Schmerz: „Merde!“ (Scheiße) Sein Peiniger verstand „Mörder“. Aus Wut wurde er noch härter geprügelt und in einem bemitleidenswerten Zustand angeblich in ein anderes Lager gebracht.

Kranken wurde geraten, sich für ein „Sanatorium“ zu melden, wo die beste Medizin an sie verteilt werden würde. Das wirkliche Ziel der Krankentransporte fanden wir erst später heraus, es war, ganz wie bei den anderen sogenannten Überstellungen in andere Lager, die Gaskammer.

Eines Tages traf ich David Berger wieder, den Vater der kleinen Susi, der mit uns in St. Julia verhaftet worden war. Dieser Mann, den ich vorher als groß, stark und leutselig empfunden hatte, war nicht wiederzuerkennen. Er war kaum fünfunddreißig Jahre alt, wirkte aber wie ein Greis. Am Ende seiner Kräfte, völlig ausgezehrt, flehte er mich an:

„Paul, du bist jung. Ich bin am Ende. Versprich mir, dich um meine Kinder zu kümmern, wenn du hier herauskommst!“

Ich habe ihn niemals wiedergesehen. Was Susi und die anderen Kinder betrifft, so sind sie bei ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau vergast worden.

Nach sechs Monaten wurden wir plötzlich und unerwartet in das Lager Schoprinitz (Szopienice) transportiert. Es war nicht weit weg, aber noch trostloser als Tarnowitz. Ich wurde von Rachel getrennt, ohne mich von ihr verabschieden zu können. Nur zu gerne hätte ich ihr noch gesagt, wie sehr ich ihre treue Freundschaft während all' dieser Monate geschätzt hatte.

Schoprinitz befand sich in einem Winkel, der von zwei Bahnstrecken begrenzt war, die sich am Horizont zu treffen schienen. Der Himmel war niedrig und immer dämmrig. Viele Züge fuhren an dem Lager vorbei.

Einige Züge transportierten Ukrainer zur Arbeit nach Deutschland. Die Schiebetüren der Waggons waren häufig offen und wenn wir uns in der Nähe befanden, bettelten wir sie um etwas zu Essen an. Von unserem Anblick unangenehm berührt, warfen sie uns Brotstücke zu, die manchmal angeschimmelt waren. Wir verschlangen sie trotzdem gierig. Die Ukrainer hatten ihr zu Hause wahrscheinlich schon vor längerer Zeit verlassen müssen...

Andere, trostlosere Züge beförderten Juden in Waggons, die so aussahen wie die, in denen wir gekommen waren. Die Transporte brachten sie in den Tod. Ohnmächtig hörten wir ihr Weinen und ihr Stöhnen. Manchmal konnten wir hinter den kleinen Gitterfenstern ein abgemagertes Gesicht erkennen.

Ein unvergesslich böser Tag wurde der, als ein Zug mit Panzern, der an die russische Front fuhr, auf unserer Höhe anhielt. Zu seinem Vergnügen bestrich ein SS-Mann von einem erhöhten Punkt des Zuges aus das Lager mit einer Maschinengewehrsalve. Ich sah mit eigenen Augen wie mehrere Kameraden getötet wurden. Einer von ihnen arbeitete als Krankenpfleger und trug deutlich sichtbar eine Armbinde mit einem roten Kreuz. Es war eine Szene wie aus einem Horror-Film. Nach diesem Blutbad ergriff uns jedes Mal die Panik, wenn ein Militärzug in der Nähe hielt. Unser tägliches Leben spielte sich in einer höllischen Umgebung ab, in der wir jede Orientierung verloren.

Unsere Tage vergingen, in dem wir Kohlenwaggons entluden, mitunter auch Sand oder Fünfzig-Kilo-Säcke mit Zement. Sie wogen mehr als wir selbst und wir trugen sie auf unseren Rücken. Schläge prasselten auf diejenigen nieder, die das Gleichgewicht auf den schwankenden, wackeligen Planken verloren, die aus den Waggons heraus führten.

Oft rissen die Säcke und ihr Inhalt rieselte auf den Boden und setzte sich in unserer Kleidung fest. Wir stopften diese Säcke, die aus mehreren Lagen Packpapier bestanden, unter unsere Jacken, um uns ein wenig vor der Kälte und dem Regen zu schützen. Natürlich war das verboten. Wenn wir in das Lager zurückkamen, waren wir grau von dem Zement, der an unseren Körpern klebte. Wir sahen aus wie die Straßenkünstler, die heute manchmal in den Fußgängerzonen Steinfiguren darstellen.

Um meine tägliche Essensration aufzubessern, stopfte ich den anderen ihre Socken. Nur die Kapos, das Küchenpersonal und andere Bevorzugte, die man im Lager „Prominente“ nannte, besaßen solche. Wir anderen mussten uns schon seit ziemlich langer Zeit mit „russischen Socken“ (Fußlappen) begnügen. Die bestanden aus Stoffstücken, die wir uns so gut es ging um die nackten Füße wickelten. Sie schützen kaum vor der Kälte und den rauen Holzpantinen, in denen wir uns die Füße aufscheuerten, was zu eiternden Wunden führte. Als Entlohnung für meine Arbeit erhielt ich ein paar Kartoffeln, etwas Suppe und manchmal ein hoch willkommenes Stückchen Brot.

Dem gierigen Blick von Dev konnte ich nicht standhalten und so gab ich ihm fast immer etwas ab. Dieses zusätzliche Essen ermöglichte uns, ein Stückchen Brot aufzubewahren, damit wir während des nächsten Tages nicht ohne feste Nahrung blieben. Am Morgen gab es nämlich nur einen sogenannten Kaffee, der als einzigen Vorteil hatte, dass er warm war und am Mittag erhielten wir eine sehr dünne Suppe. Dev und ich versteckten ein stückchen Brot unter unseren Kopfkissen, damit es nicht in der Nacht gestohlen werden konnte.

Eines Morgens entdeckte Dev zu seinem Ärger, dass ihm sein Brot gestohlen worden war. Sofort schaute ich unter dem Lumpenbündel nach, das mir als Kopfkissen diente, und stellte mit Schrecken fest, dass meines ebenfalls verschwunden war.

Einer meiner Nachbarn, der sich auf der unteren Etage des Stockbettes befand, bot mir drei winzige Kartoffeln und eine dünne Scheibe Brot an, kaum etwas von Substanz! Er selber war schon etwas älter – als Jugendlicher erschien mir jeder über dreißig steinalt zu sein – und bis auf die Knochen abgemagert. Welchen Ausdruck soll man für diese Geste finden, für die Opferbereitschaft eines Menschen, der selbst so unter dem Unglück dieses Ortes litt, wo keinerlei Mitgefühl zu existieren schien?

In unserer Baracke kamen mehr und mehr Diebstähle vor. Dev wurde verdächtigt, in eine andere Baracke versetzt und die Diebereien ließen nach. Ich wollte und konnte an seine Schuld nicht glauben. Aber einige Tage später kam er nach dem Aufstehen zu mir gelaufen, um mir zu gestehen, dass er auf frischer Tat ertappt worden wäre. Er hätte den quälenden Hunger einfach nicht mehr aushalten können. Nun flehte er mich an, ihm zu sagen, dass ich trotzdem sein Freund bleiben würde. Das würde es ihm leichter machen die Prügel auszuhalten, die ihn nach dem Appell verabreicht werden würden und die anschließende Isolierung, mit der wir Diebe zu bestrafen pflegten. Also hatte er, den ich für meinen Freund gehalten hatte, auch mein Brot gestohlen! Ich war wie vor den Kopf geschlagen, schockiert und betrübt. Das war zuviel, ich konnte ihm nicht verzeihen.

Heute tut es mir leid, dass ich so streng gewesen bin. Dev, hatte, wie viele andere, große Schwierigkeiten den quälenden und nie gestillten Hunger zu beherrschen, der uns wirklich peinigte. Von morgens bis abends dachten wir daran, wie wir an Nahrung kommen könnten. Der Hunger löschte unsere Reaktionen aus, unseren Geist und unseren gesunden Menschenverstand. Nur wer selber unter Hunger gelitten hat, oder unter Hungeranfällen leidet, kann verstehen, warum der Hunger jemanden zu einem absolut verurteilungswürdigen Verhalten drängen kann: das Leben eines Leidensgefährten etwas zu verkürzen, in dem man ihm ein Stück seines Brotes stiehlt.

Unsere Peiniger, die tatsächlich Verantwortlichen, die uns am Existenzminimum leben ließen, amüsierten sich über derartige Vorfälle und bestraften mitunter das Opfer genauso wie den Täter.

Es gab nichts, was man vorhersehen konnte. Eines Tages hieb ein Kapo, dessen Verhalten ansonsten einigermaßen erträglich war, auf einen meiner Kameraden in unerklärlicher Wut mit der Peitsche ein. Schluchzend verfluchte der Geschlagene ihn auf jiddisch: „Mögen ihm die Hände abfallen.“

Einige Tage später – durch Zufall oder ausgleichende Gerechtigkeit – quetschte sich dieser Kapo vier seiner Finger zwischen zwei aufeinanderstoßenden Waggons. Diese Verletzung führte dazu, dass er bei der nächsten Selektion aussortiert wurde.

Im September 1943 endete unser Aufenthalt in Schoprinitz. Wir kannten unsere nächste Station nicht, waren aber von der großen Furcht besessen, in das berühmt-berüchtigte Auschwitz geschickt zu werden, mit dem man uns bei der kleinsten „Ungehorsamkeit“ oder einem vermeintlichen „Mangel an Disziplin“ stets gedroht hatte. Als wir hörten, dass es nach Birkenau ginge, fühlten wir uns erleichtert, so naiv waren wir. Nach einer kurzen Strecke blieb der Zug im Bahnhof Auschwitz stehen. Wir waren völlig niedergeschlagen. Die allerschlimmsten Befürchtungen waren Wirklichkeit geworden: Birkenau war nur ein anderes Wort für Auschwitz.