In Auschwitz-Birkenau
 

Das gewaltige SS-Herrschaftsgebiet von Auschwitz war in mehrere Komplexe aufgeteilt worden:

Auschwitz I — das Stammlager, in dem meist polnische, politische Häftlinge saßen.

Auschwitz II — Birkenau, Arbeits- und Vernichtungslager vorwiegend für Juden.

Auschwitz III — Monowitz, Buna Monowitz: Chemiewerk der IG Farben,

nach dem November 1943 auch Einsatzzentrale für 39 Außenlager überwiegend in Oberschlesien.

Jüdische Zwangsarbeiter arbeiteten in den landwirtschaftlichen Betrieben der SS, bei Bauarbeiten unter der Regie der SS, aber auch in den schlesischen Kohlegruben wie der Charlottegrube in Rydułtowein, der Fürstengrube in Wesoła bei Mysłowice, der Günthergrube in Lędziny und anderen. Tausende von Häftlingen wurden an Rüstungsbetriebe verliehen, die z. b. Panzer, Kanonenrohre oder Granaten herstellten bzw. Zulieferer für die Produktion an anderer Stelle waren. Als Beispiel sei hier nur die Produktionsanlage von Siemens-Schuckert in Bobrek genannt, die elektrische Apparaturen für Flugzeuge und U-Boote herstellte.

Birkenau, erstreckte sich über eine riesige Fläche, auf der sich vorher das Dorf Birkenau (Brzezinka) befunden hatte. Es war schon vor dem Baubeginn 1941 geräumt worden. Die trostlose Umgebung schien für das ungeheure Unternehmen der „Endlösung der Judenfrage“ vorherbestimmt. Das sumpfige, flache Gelände war einem unerbittlichem Wind ausgesetzt, der Himmel war fast immer grau und niedrig. Hier wurden die Gaskammern errichtet und Öfen der Krematorien, die Tag und Nacht in Betrieb waren. Von ihnen kam ein widerlicher Gestank, der meinen Geruchssinn zum Teil zerstört hat.

In den ursprünglichen Plänen wurde mit einer Zahl von 200 000 ständigen Gefangenen gerechnet, die hauptsächlich in Wehrmachtsbaracken vom Typ „Pferdestall“ Unterkunft finden sollten. Das gesamte Lager war mit doppeltem Stacheldrahtzaun umgeben, der unter elektrischer Hochspannung stand. Ungefähr alle zweihundert Meter ragte ein Wachtturm auf. Auf den Türmen waren SS-Männer mit Maschinengewehren. In der Nacht wurde das Lager ununterbrochen mit beweglichen Scheinwerfern ausgeleuchtet. Darüber hinaus sah man nichts als unendliche Weiten, die im Winter mit hohem Schnee bedeckt waren. Der Winter schien hier kein Ende zu nehmen. Ich erinnere mich nicht daran, dass es überhaupt Bäume gab.

Birkenau war noch mal in verschieden Zonen aufgeteilt. Es gab das Arbeitslager, das Frauenlager, das Zigeunerlager, die Quarantäne, die zentrale Krankenstation und so fort. Diejenigen, die nicht sofort nach ihrer Ankunft vergast wurden, mußten durch die Quarantäne. Wenn sie das überlebten, kamen sie später in das Arbeitslager.

Als wir in der Nähe des Arbeitslagers ankamen, beobachte ich Männer in Sträflingskleidung, gebeugt und mit schleppendem Gang. Ihr Tun schien mir rätselhaft. Sie trugen mit großer Sorgfalt Pflastersteine von einem Haufen, um sie etwas weiter auf einen anderen Haufen zu schichten. Später erfuhr ich, dass diese sinnlose Arbeit in gleichem Rhythmus von morgens bis abends ausgeführt werden musste. Die SS betrachtete sie als Erziehungsmittel zur besseren Anpassung an das Lagerleben. Tatsächlich zehrte sie an der körperlichen und geistigen Widerstandskraft der Deportierten. Es war schwierig, das lange auszuhalten.

Bevor man bei der Ankunft unseren körperlichen Zustand genauer beurteilte, befahl man uns, in Fünfer-Reihen zu laufen. Diejenigen, die zu schwach erschienen, wurden sofort aussortiert und umgebracht. Anschließend brachte man uns in eine Baracke und wir erhielten von einem Kapo einen erzieherischen Vortrag. Wichtige Worte unterstrich er, in dem er mit einer Reitpeitsche gegen seine makellos polierten Stiefel klopfte:

„Im Vergleich, zu dem was euch hier erwartet, war euer bisheriges Leben ein Spaziergang.“

Das war keine Bosheit, das war eine Ankündigung!

Nach diesem Vorgeplänkel ging es auf den Hof zurück, wo Eiseskälte herrschte, es war immerhin November. Dort nahm man uns unsere Kleidung ab, rasierte uns von Kopf bis Fuß mit einem Rasiergerät, dessen Klinge schon lange stumpf geworden war. Anschließend tätowierte man uns wie einem Stück Vieh eine Nummer auf den linken Unterarm. Das war mir auch deswegen unerträglich, weil ich wusste, dass nach der jüdischen Religion Tätowierungen verboten sind.

Meine Nummer war: 160 610. Erst als ein Kapo mich einmal „komische Nummer“ nannte, bemerkte ich ihre Besonderheit. In der Nummer 160 610 wiederholt sich jede Zahl zweimal, genau wie die Summe 1 + 6 + 0 = 7 und 6 + 1 + 0 = 7. Die Ziffer 7 ist also auch zweimal enthalten, was von großer Symbolkraft für diejenigen ist, die sich von den geheimen Botschaften in Buchstaben und Zahlen angezogen fühlen. Unter den vielen möglichen Bedeutungen finden sich in der Kabbala (der jüdischen Geheimwissenschaft von Zahlen und Symbolen) Leben, Frieden, Wissenschaft, Reichtum, Gnade, Saat, Vorherrschaft. In anderen Lehren finden sich sieben Tugenden: Treue, Mut, Geduld, Duldsamkeit, Klugheit, Liebe und Verschwiegenheit. Doch darüber dachte ich erst sehr viel später nach.

Entmenschlicht, erniedrigt, zur bloßen Nummer gemacht, verloren wir unsere Identität. Dann schickte man uns unter eine kalte Dusche, nach der wir uns nicht einmal abtrocknen konnten. Anschließend standen wir wieder nackt im Hof. Wir versuchten, uns wenigstes ein wenig aufzuwärmen, indem wir uns aneinander pressten.

Endlich verteilte man irgendwelche Lumpen an uns, die nun unsere Kleidung sein sollten: Eine Art gebrauchter Schlafanzug mit großen Streifen, ein Hemd ohne Kragen und eine Mütze. Das Ganze war aus einem groben Stoff gefertigt, der stark nach Desinfektionsmittel stank. Die Ausrüstung wurde durch ein Paar Holzschuhe vervollständigt. Nichts entsprach unseren Kleidergrößen und so mussten wir untereinander tauschen, so gut es ging. Als ich meine Kameraden betrachtete, fiel es mir nicht schwer mir vorzustellen, was für einen Anblick ich nun bot. So waren wir denn in die Lagergesellschaft aufgenommen und verbrachten unsere erste Nacht völlig erschöpft in einer Baracke.

In den dreistöckigen Betten waren auf jeder Etage sechs Männer untergebracht, das ergab etwa fünfzig Zentimeter in der Breite an Liegefläche für den Einzelnen. Als Matratze gab es einen stinkenden Strohsack und als Zudecke ein dünnes Baumwolltuch. Diese Nacht wurde wie alle anderen die folgen sollten, zu einer echten Heimsuchung.

Auf einen der älteren Häftlinge der völlig abgemagert war und mit verstörten hervorstehenden Augen vor sich hin starrte, traf nur noch der Ausdruck „Muselmann“ zu. Man nannte diese Menschen so, weil sie kaum noch von dieser Welt waren. Es war ihnen alles gleichgültig, was sie redeten eingeschlossen. Um ihr bisschen Kraft zu schonen, bleiben sie regungslos sitzen und zogen sich die dünne Decke über den nach vorne gebeugten Kopf. So sahen sie aus wie betende Muslime und schienen nichts mehr von dieser unwirklichen Welt mitzubekommen. Ich fragte den Mann, wo denn der beißende Geruch herkäme und was die Flammen bedeuteten, die aus dem Kamin eines nahen Gebäudes schlugen.

Mit kaum hörbarer Stimme sagte er mir:

„Wenn deine Eltern mit dir deportiert worden sind, dann sind sie durch die Tür dieses Gebäudes hineingegangen und durch den Schornstein wieder heraus.“

Ich glaubte, er wäre verrückt! Das erschien mir völlig unglaubwürdig. Ich weigerte mich, eine solche Schauergeschichte zu glauben. Es war jenseits meiner Vorstellungskraft.

Aber der Schock und der Unglauben wichen sehr schnell der unausweichlichen Erkenntnis der Tatsachen.

Viele Gedanken wirbelten durch meinen Kopf:

Wie viele Deportierte mögen nach ihrer Ankunft in die angeblichen Duschräume geschickt worden sein, vergast, verbrannt und in Rauch aufgegangen?

Seit wann „verarbeitete“ man Männer, Frauen und unschuldige Kinder zu Asche?

Wie viele Menschen wurden bei den regelmäßigen Selektionen ausgesondert, weil sie nicht mehr in der Lage waren für die Kriegsmaschinerie der Nazis zu arbeiten?

Wie viele Leben blieben unvollendet, viel zu kurz?

Welch eine Missachtung des Höchsten, das es gibt, des Lebens!

Der Tag, an dem ich erkannte, was in Birkenau vor sich ging, war der schlimmste in meinem Leben als KZler. Wie sollte man da noch die Kraft finden, weiter zu kämpfen und zu versuchen zu überleben? Nach einer kurzen Zeit der Niedergeschlagenheit gewann allerdings der Überlebenstrieb eines erst 18-jährigen die Oberhand. Als persönliches Motto übernahm ich die Inschrift, die ich an der Wand in Drancy eingeritzt gesehen hatte:

"Wenn es nichts mehr zu hoffen gibt, dann darf man nicht verzweifeln."

Die Hoffnung und der Wille, den Kampf gegen die Ohnmacht weiterzuführen, waren die einzigen Waffen und die einzigen Formen von Widerstand, die den Deportierten noch zur Verfügung standen. Und so raffte ich mich wieder auf.

Am Tag nach meiner Ankunft erfuhr ich, dass Metallarbeiter gesucht wurden. Meine Studien an der Technikschule in Brüssel schienen mir ein guter Anknüpfungspunkt zu sein, also meldete ich mich als Metallarbeiter. Der Ingenieur Kurt Bondzius hatte den Auftrag, etwa fünfzig Deportierte auf ihre Qualifikation zu überprüfen. Er arbeitete für das Unternehmen Siemens-Schuckert.

Es war ein Hoffnungsschimmer für mich. Vielleicht könnte ich so aus der Quarantäne herauskommen, wo die Menschen reihenweise starben. Ich stellte mich mit den anderen an. Vor mir stand zufällig ein Mann, der aus Wien stammte, ein echter Prolet. Ich fragte ihn nach seinem Beruf und er antworte mir in breitem Wiener Dialekt: „Eisendreher.“ Spontan beschloss ich, mich als Eisendreher auszugeben. Bei der Prüfung wurde gefragt, ob ich auch andere Materialien bearbeiteten könne, also gab ich an, dass ich mich auf das Drehen von Holz verstand. Auf weitere Nachfrage erfand ich Fähigkeiten im Umgang mit allen möglichen Metallen. Die vagen Antworten und meine offensichtliche Jugend konnten keinen Zweifel daran lassen, dass ich keine Ahnung hatte.

Bondzius kommentierte ironisch: „Na, du bist mir ja ein guter Dreher.“

Ich tat so, als ob ich den spöttischen Ton nicht verstanden hätte, und antwortete:

„Nein, ich bin wirklich kein guter Dreher.“

Zu meiner großen Überraschung und Erleichterung, wurde ich mit fünfzig weiteren „Spezialisten“ angenommen. Mein Schicksal wendete sich. Von nun an gehörte ich zum „Kommando Siemens-Schuckert“.

Bald wurden wir in das Arbeitslager eingewiesen. Wir kamen in den Block 11, der mit einer zusätzlichen Steinmauer umgeben war. Hier waren wir nun isoliert und konnten uns nicht mehr unter die anderen Deportierten im Lager mischen. Es war der Block des Strafkommandos, und eigentlich für diejenigen vorgesehen, die versucht hatten zu fliehen oder anderer „Vergehen“ beschuldigt wurden. Viele waren Kriminelle („Berufsverbrecher“), was man daran erkennen konnte, dass sie ein grünes Dreieck trugen.

Jede Kategorie von Deportierten unterschied sich von den anderen durch die Farbe des Dreiecks, dass auf die Jacke aufgedruckt war. Es befand sich vor der aufgenähten Häftlingsnummer. Die Politischen hatten Rot, die Asozialen Schwarz, die Homosexuellen Rosa, die Zigeuner Braun, die Zeugen Jehovas Lila, die Juden Gelb und so fort. Die Dreiecke konnten auch kombiniert sein, beispielsweise in Rot und Gelb für politische Häftlinge, die Juden waren. Zusätzlich gab es Buchstaben, um die Nationalitäten zu unterscheiden...

Die „Berufsverbrecher“ und die „Politischen“, besonders wenn sie „Reichsdeutsche“ waren, schienen ansonsten besondere Vorrechte zu genießen. Meist waren sie vor Selektionen geschützt, denn sie hatten häufig für die Organisation des Lagers wichtige Funktionen wie Blockältester, Kapo und dergleichen. Die Blockältesten hatten sogar das Anrecht auf ein eigenes Zimmer in der Baracke.

An beiden Enden unsere Baracke befand sich je ein Ofen. Auf dem Boden in der Mitte verlief ein langes Rohr, das mit Ziegelsteinen ummauert war und als Bank diente. Sofern im Winter geheizt wurde, strahlte es ein wenig Wärme ab. Um die wenigen Sitzplätze gab es ein unbeschreibliches Gerangel. Die, die keinen fanden, mussten sich auf ihren Pritschen zusammenkauern.

In der düsteren Behausung gab es keinerlei Fenster, durch die man den Himmel hätte sehen können oder auch nur etwas Tageslicht. Das kleinste Fensterchen hätte ein Schlupfloch für Träume sein können... Doch nur die Gattung Mensch träumt, und uns rechnete man nicht mehr dazu.

Auf Anforderung von Bundzus, spendierte man uns eine zusätzliche Schale Suppe, um uns für die bevorstehende Arbeit etwas aufzupäppeln. Emil Bednarek, unser Blockältester, ein Krimineller und echter Tyrann, ließ uns diese Suppe teuer bezahlen. Aus unverständlichen Gründen hasste er alle Juden. Da wir uns sozusagen zur „Kur“ im Strafblock befanden, kam er auf den Gedanken, uns Turnübungen machen zu lassen, damit wir fit blieben.

Meist war das nach dem Arbeitstag. Wir waren nur noch kaputt und versuchten, uns wenigstens etwas auszuruhen. Mitten in der Nacht riss er uns brutal aus dem Schlaf, jagte uns auf den Hof und befahl uns zu laufen, während die Kapos auf uns schwankende Gestalten einprügelten.

 Anfang 1944 fand die größte Selektion statt, die ich in Birkenau erlebte. Alle Häftlinge bekamen Ausgangssperre und mussten nackt an den SS-Ärzten Dr. Josef Mengele und Dr. Horst Fischer vorbeiziehen.

Sie lachten, unterhielten sich miteinander und rauchten Zigaretten, während sie ohne innere Beteiligung mit einem kurzen Wink bestimmten, wem ein Aufschub gewährt werden würde und wen man noch etwas weiter leiden lassen könnte oder wer unbekleidet in einer Baracke auf das Morgengrauen nach einer endlos scheinenden Nacht warten sollte, um vergast zu werden.

Als ich das Lachen unser Peiniger sah, fiel mir spontan eine Zeile aus einem Gedicht ein, das ich vor Jahren in Wien gelernt hatte:

„Weit impertinenter noch

Als durch Worte, offenbart sich

Durch das Lächeln eines Menschen

Seiner Seele tiefste Frechheit.“

(Heinrich Heine, Atta Troll, Caput VII)

Als wir nach dieser harten Prüfung in den Block zurückkamen, streckte Bednarek, der anscheinend seinen Hass immer noch nicht gestillt hatte, Peter Dymhoff, einem bekannten Musiker, eine Geige entgegen und befahl ihm zu spielen. Peter war so mutig, sich standhaft zu weigern. Außer sich vor Wut prügelte Bednarek auf ihn ein, bis er tot war. Ohnmächtig beobachteten die Internierten den Mord, der vor aller Augen begangen wurde.

Mehr als in allen anderen Lagern fühlte ich mich hier vom Tod bedroht. Ich lebte ständig in seinem Schatten und musste mich daran gewöhnen. Es hörte damit auf, dass der Tod mir schließlich keine Angst mehr machte.

Morgens um vier, der Tag hatte kaum begonnen, weckte uns der Stubendienst fluchend und brüllend. Die Diensthabenden schlugen derb mit Knüppeln gegen die Pfosten unserer Bettgestelle. Mitunter trafen sie dabei die Häftlinge, die nicht schnell genug aufgestanden waren. Wie eine kopflose Herde rannten wir zu den Latrinen. Diese „Toilettenanlage“ befand sich in einer getrennten Baracke. Über offene Rinnen voller Exkremente waren Holzbretter mit Öffnungen gelegt. Auf denen saßen wir dann nach dem Prinzip Plumpsklo Seite an Seite. Abtrennungen, Türen oder wenigstens Sichtschutz gab es nicht. Es war entwürdigend. Der Gestank war ekelhaft. Ein „Scheißmeister“ war ernannt worden, um die Dauer unseres Aufenthaltes zu verkürzen, den man als „Erholung“ auffasste. Danach drängten wir an die Waschbecken, um uns schnell und daher zwangsläufig oberflächlich zu reinigen.

Und dann setzte die Folter des endlosen Morgenappells ein. In ordentlichen Reihen standen wir ausgelaugt und schwankend vor unseren Baracken. Wenn die SS vorbeikam, befahl der Blockälteste: "Mützen ab!" und wenn das nicht absolut synchron vor sich ging, brüllte er wieder: "Mützen auf!" Diese Übung, die wir für ihren Geschmack nie schnell genug hinbekamen, konnte Stunden dauern.

Wenn wir dann mit unbedecktem Kopf dastanden, meldete der Blockälteste die Anwesenden, die Kranken und die Toten. Da nach und nach die Zeit verging, brachen derweil die Schwächsten vor Erschöpfung zusammen und starben. Man begann wieder von vorn, bis die Zahlen absolut stimmten. Unseren Peinigern machte der Schnee, der Wind und der Regen wenig aus. Es machte ihnen auch nichts aus, dass unsere Kleider vom Vortag noch feucht waren und dass uns nichts vor der beißenden Kälte schützte, dass wir so lange draußen bleiben mussten und dass unsere Füße nie trocken wurden — unermüdlich zählten und zählten sie die Lebenden und die Toten immer und immer wieder.

Dann wurden die Kommandos zusammengestellt und im Gleichschritt ging es in einer Gruppe von etwa sechzig Deportierten hinaus, die, solange es möglich war, unter Vordächern Schutz suchten. Begleitet wurde der Ausmarsch von den "lustigen" Klängen des Lagerorchesters, wodurch wir zusätzlich verhöhnt wurden.

Die Gruppe "Siemens" hatte das außergewöhnliche Glück mit einem LKW zu ihrer Baustelle nach Bobrek, einer kleinen Ortschaft in etwa acht Kilometer Entfernung, gefahren zu werden. Dort wurde eine frühere Ziegelei zu einer Metallfabrik umgebaut und es sollte daneben das künftige Lager Bobrek eingerichtet werden.

Bei unserer Rückkehr zwang man uns, deutsche Marschlieder anzustimmen. Diejenigen, die die Sprache Goethes nicht beherrschten, taten gut daran, die Worte möglichst gut nachzuahmen, um Prügel zu vermeiden. Unausweichlich kam der Abendappell, der haargenau so ablief wie der vom Morgen.

Endlich kam der so sehnsüchtig erwartete Augenblick, an dem die tägliche Suppenration verteilt wurde. Die Suppe bestand aus Kartoffeln, Rüben, Kohl und roten Beeten. Wir erhielten dazu ein Mischbrot aus Weizen- und Hafermehl. Das Brot musste in fünf gleiche Stücke aufgeteilt werden. Das war keine leichte Aufgabe. Wir wogen die Brotscheiben mit einer selbstgebastelten Waage aus Holzstücken und Fäden. Ich sehe uns noch regungslos dastehen, halb verhungert, den Blick auf das Ritual des Brotteilens gerichtet. Jeder war sich sicher, dass sein Stück ein klein wenig kleiner als das des Nachbarn ausfiel. Das war der Grund andauernder Streitigkeiten.

Von Zeit zu Zeit bekamen wir ein winziges Eckchen Margarine und zweimal in der Woche eine dünne Scheibe Wurst. Die Suppe aber war der wesentliche Bestandteil unserer Nahrung. Zum Schleppen des riesigen Kübels, der einige Dutzend Liter Suppe enthielt, meldeten sich stets Freiwillige, die dafür eine Kelle Suppe zusätzlich bekamen. Beim Eintreffen der Suppenträger bildeten wir unter Gedränge und Gerangel eine Schlange, in der wir uns mit unseren vorgereckten Schalen anstellten. Einige Männer, die sich für besonders schlau hielten, warteten, bis die ersten fertig waren, denn die Suppe wurde nach und nach dicker. Aber man musste den günstigsten Augenblick erwischen und seine Chancen gut abschätzen. Dumm gelaufen, wenn man überhaupt nichts mehr abbekam. Der Bodensatz, das Beste, ging auf jeden Fall an den Kapo und den Stubendienst.

Diese lange erwartete Nahrung war umso schneller heruntergeschlungen. Wer sich auf das "Organisieren" verstand, besorgte sich einen Löffel. So konnte man seine Suppe langsam auslöffeln und das Vergnügen verlängern. Welch ein Luxus!

Nach dem unsere magere Mahlzeit beendet war, begann die lästige Pflicht der Läusekontrolle. Unsere Kleidung war voller Läuse, die wir einfingen und zwischen den Fingern zerquetschten. Man musste dabei sehr sorgfältig vorgehen, damit einem ja keine entwischte. Wer nicht genug aufpasste, landete bald unter der eiskalten Dusche. Die Läuse übertrugen Typhus, so war es auch im Interesse der Lagerinsassen, sie unter Kontrolle zu halten. In diesem Winter (1943/44) war eine verheerende Epidemie ausgebrochen. Unzählige Menschen starben an der Krankheit.

Schon gab es eine neue Geißel: die Krätze, der ich leider nicht entging. Der Juckreiz war derartig unerträglich, dass ich nicht anders konnte, als mich zu kratzen bis es blutete. Um mich zu kurieren, musste ich meine Brotration gegen eine Arznei tauschen. Man musste um jeden Preis das Krankenrevier meiden, weil der Besuch dort tödlich sein konnte. Regelmäßig endete eine bestimmte Zahl der Kranken im Gas.

Während des ganzen Winters litt ich an schwerer Gelenkentzündung. Ich musste mich bei meinen Kameraden abstützen, wenn wir zur Arbeit gingen. Dabei durfte ich auf keinen Fall erwischt werden. Es brauchte Stunden, bevor ich nach einer Ruhezeit meine Knie wieder richtig beugen und meine Finger schließen konnte.

Eine andere Prüfung wartete auf mich: häufige Durchfälle. Das war schrecklich schwierig, schon weil man nicht immer, wenn es notwendig war, die Latrine aufsuchen durfte. So ging die Sache des öfteren „in die Hose“, die man weder richtig waschen noch trocknen konnte. Ich wurde den Durchfall los, in dem ich verkohlte Kartoffelstücke aß.

Wenn ich irgend konnte, schlief ich. Das war ein unwiderstehliches Bedürfnis. Ich döste selbst beim marschieren. Lange hatte ich das Gefühl nur noch im Schlaf zu wandeln. Ich schlief, die Umstände waren unwichtig. Um einige Stunden kostbaren Schlafes zu gewinnen, nahm ich große Risiken auf mich. Während mehrerer Tage schlich ich mich nach dem Morgenappell heimlich still und leise in den hinteren Teil der Baracke, der für die Deutschen vorbehalten war und weniger streng bewacht wurde. Ich streckte mich auf der dritten, der obersten Etage ihrer Bettgestelle aus, um dort zu schlafen, bis meine Kameraden von der Arbeit zurückkamen.

Dieses Manöver führte ich durch, bis ich eines Tages die Schwäche hatte, mein Geheimnis einem meiner Gefährten zu enthüllen. Er fand den Einfall sehr schlau und machte es mir nach. Dass er von nun an mit mir kam, führte ins Verhängnis. Er schnarchte derartig laut, dass Bednarek auf ihn aufmerksam wurde. Mit unverhohlener Freude verpasste Bednarek uns auf der Stelle eine Reihe von Stockhiebe auf den Hintern, die wir laut einen nach dem anderen mitzählen mussten. Anschließend folgte bei Kälte und Schnee eine Stunde Kniebeugen mit ausgestreckten Armen auf dem Hof.

Diese Art der Bestrafung war unser täglich Brot. Viele Deportierte brachten bei dem „Training“ zusammen und wurden mit heftigen Schlägen von unseren Folterknechten fertiggemacht, die sich mit sadistischer Freude besonders gerne über diejenigen hermachten, die schon auf dem Boden lagen. Lange Zeit blieb mein verlängerter Rücken schmerzhaft und zwang mich, auf dem Bauch zu schlafen. So endete das Wohlgefühl einiger Stunden geraubten Schlafes.

Die Transporte aus Ungarn begannen einzutreffen, in der Größenordnung von 10 000 Menschen pro Tag – manchmal sogar mehr. Nur wenige entkamen dem unmittelbaren Tod. Die Krematoriumsöfen brannten ununterbrochen, Tag und Nacht, es war unmöglich, die Menschen alle so schnell einzuäschern.

Ein besonderer Tag, wird mit immer in Erinnerung bleiben. Wir waren zu früh mit dem Appell fertig geworden, um schon zur Arbeit zu gehen. Plötzlich sah ich direkt vor mir einen solchen Transport. Man befahl unserem Kommando, sich in einen Graben zu legen. Es wurde streng verboten, mit den Neuankömmlingen zu reden.

Ganze Familien zogen in langen Kolonnen an uns vorüber. Ausgezehrt, durstend, mit Gepäck beladen, glaubten auch sie  - so naiv wie einst wir selber-, dass sie in ein Arbeitslager kamen. An der Spitze ging eine Gruppe von chassidischen Juden. Mit ihren schwarzen langen Mänteln und ihren schwarzen Hüten umringten sie ihren Rabbiner. Einer der Männer trug ehrfürchtig eine Thorarolle in seinen Armen. Innig drückte er sie an sein Herz wie ein kleines Kind. Vertrauensvoll, fast heiter, murmelten sie Gebete, während die auf die Gaskammern zugingen, in den Tod. Glücklicherweise konnten sie unsere entsetzten und hoffnungslosen Blicke nicht sehen.

Im Mai 1944, nach sieben Monaten in Birkenau, verließ ich diese Hölle, um endlich in das Lager Bobrek gebracht zu werden. Die Fabrik, die wir dort gebaut hatten, war fertig. Von der ersten Gruppe von fünfzig Facharbeitern, die der Ingenieur Bondzius in der Quarantäne ausgewählt hatte, waren nur noch zwanzig übrig.

Endlich entkam ich dem grauenhaften Einflussbereich Bednareks und den endlosen Morgen- und Abendappellen. Wir waren erleichtert, nicht mehr den regelmäßigen Selektionen ausgesetzt zu sein und uns weit weg von den Gaskammern und den Krematorien zu befinden, nicht mehr den schweren Rauch ihrer Schornsteine einatmen zu müssen. Auch das Orchester, das beim Abmarsch und zur Wiederkehr der Arbeitskommandos aufspielte, ließen wir hinter uns.