Evakuierung, Flucht und Befreiung
 

Am Ende des Jahres 1944, Anfang 1945, kam der Gefechtslärm näher. Die alliierten Flugzeuge überflogen die Region häufig. Die russische Armee schien nicht weit entfernt zu sein. Am 18. Januar 1945, um zwei Uhr morgens, verkündete man uns unsere unmittelbar bevorstehende Evakuierung. Bei minus 25°C standen wir auf dem Hof. Um 10 Uhr morgens kam der Marschbefehl.

Während der Wartezeit wurden die Nahrungsmittelreserven verteilt. Jeder erhielten wir mehrere Brote, einen Würfel Margarine und etwas Puderzucker. Vor lauter Hunger verschlangen wir so viel wie möglich dieser Extra-Ration und stopften den Rest in irgendwelche Beutel.

An dem Tag begann für uns der „Todesmarsch“. Wir waren in unsere Decken eingehüllt, trugen unsere Essnäpfe und die so kostbar gewordenen Proviantbeutel. Nach zwölf Kilometern schlossen wir uns den Häftlingen aus dem Lager Buna-Monowitz, dem Werk der IG Farben, an. Als wir uns dem Lager Birkenau näherten, packte uns eine furchtbare Angst. War das das Ende unseres Weges? Wie groß war unsere Erleichterung, als wir diesen verfluchten Ort hinter uns gelassen hatten!

Ein bedauernswerter Zug aus Tausenden Deportierten schleppte sich in Richtung Deutschland über die verschneiten Straßen Oberschlesiens. Am Ende brachten die Nazis die Juden in das Reich zurück, wo sie doch vorher alles getan hatten, um sie loszuwerden und Deutschland „judenrein“ zu machen.

Dieser erste Tag auf der Straße wurde hart. Als wir in einem Dorf mit dem Namen Nikolai ankamen, versprach man uns eine kurze Pause in einer Scheune. Wir gingen vorsichtig hinein. Die Erfahrung hatte uns Vorsicht im Umgang mit den Nazis gelehrt. Hatten sie einen neuen Plan, um uns loszuwerden? Nach unserem Abmarsch bemerkten wir, dass einige mutige Häftlinge, die aus der Gegend stammten, sich unter dem Stroh versteckt haben mussten. Nach unserer Ruhepause gelang ihnen die Flucht.

Beim Weitergehen blieb nach und nach immer mehr Schnee an unseren Holzsohlen kleben. Wir schleppten regelrechte Schneebretter hinter uns her. Nach einigen Kilometern waren wir so geschafft, dass die wertvollen Nahrungsmittel nur noch eine Last waren. Mit Bedauern mussten wir einen Teil des Proviants in den Schnee werfen.

Seit wir losgezogen waren, hatte ich Bluma unter meine Fittiche genommen. Ich unterstützte sie, ich trug ihr Essgeschirr und ihren Brotsack — zusätzlich zu meinem eigenen Gepäck. Nach einigen Stunden unterwegs brach sie vor Erschöpfung am Rande der Straße zusammen. Anzuhalten war der reinste Wahnsinn! Entweder erfror man oder wurde auf der Stelle von den Wachen erschossen, die den Befehl hatten, keine Lebenden zurückzulassen. Einer von ihnen kam schon mit dem Gewehr auf uns zu und forderte uns auf weiterzugehen. Es gelang mir zu meiner eigenen Überraschung, ihn zu überzeugen, uns einen Moment Ruhe zu gönnen. Ich versprach ihm, dass wir uns unverzüglich wieder an unsere Gruppe anschließen würden. Dieses Himmelsgeschenk wollte ich ausnutzen. Ich schlug Bluma vor, gemeinsam zu fliehen. Ihre Ablehnung verblüffte mich:

„Ich bitte dich Bluma, höre auf mich, streng dich noch einmal etwas an. So eine Gelegenheit kommt nie wieder.“

„Versteh' mich doch, ich möchte versuchen, meinen Bruder wiederzufinden. Ich bin sicher, dass er bei denen aus Buna-Monowitz dabei ist,“ antwortete sie.

Enttäuscht gab ich auf, und wir schlossen uns schließlich wieder der jämmerlichen Kolonne auf der Straße an. Kein Mensch wusste, wohin es ging. Die größte Überraschung bereitete uns ohne Zweifel der ehemalige Lagerleiter Lukaschek. Als er uns sah, rief er:

„Ihr Idioten, was macht ihr denn noch hier?“

Vor totaler Entkräftung nur noch schwankend, erreichten wir das Lager Gleiwitz (Gliwice). Es ist unmöglich zu beziffern, wie viele Deportierte auf den siebzig Kilometern, die wir zurückgelegt hatten, vor Entkräftung im Schnee zusammengebrochen waren und so starben oder wie viele der Erschöpften von der SS erschlagen und erschossen wurden. In Gleiwitz herrschte Panikstimmung. Die SS-Leute waren auf beunruhigende und besorgniserregende Weise nervös.

Bluma konnte durch einen Glücksfall ihren Bruder wiederfinden, während ich den Rest meiner Kräfte zusammennahm und mich auf der Suche nach ihrem Bruder von Baracke zu Baracke schleppte. Ohne Unterlaß rief ich: „Dab.“ Wunderbarerweise antwortete schließlich eine dünne Stimme auf mein Rufen.

„Ich bin da. Dab, das bin ich!“

Ich konnte ihn nicht einmal richtig sehen, aber ich rief in Richtung der Stimme:

„Deine Schwester ist da. Sie ist in der Frauenbaracke.“

Ich hatte das Gefühl nun keine Verpflichtungen mehr gegenüber Bluma zu haben und beschloss, bei der nächsten Gelegenheit zu fliehen.

Bluma hat überlebt. Nach der Befreiung erhielt ich von ihr eine Nachricht. Sie hatte inzwischen geheiratet und ein Kind. Dann brach merkwürdigerweise die Verbindung ab. Ich weiß nicht, was später aus ihr geworden ist.

Die wertvolle Zeit, die ich verloren hatte, als ich Blumas Bruder suchte, führte dazu, dass es nun für mich unmöglich war, noch in den Schutz einer Baracke zu kommen. Sie waren alle total überfüllt. Es war nicht einmal mehr möglich, die Türen einen Spalt breit zu öffnen. Wie viele andere musste ich draußen bleiben und sackte bald zusammen. Ich fiel in einen tiefen Schlaf.

Völlig ausgekühlt, wachte ich plötzlich wieder auf. Mein erster Reflex war nachzusehen, ob das Brot, das ich unter meinen Kopf gelegt hatte, noch da war. Ich war am Boden zerstört, als ich feststellen musste, dass es verschwunden war. Meine Nachbarn zur linken und zu rechten bewegten sich nicht mehr. Sie waren für immer eingeschlafen und den Leiden entkommen, die auf uns noch warteten.

Ich war diesem Schicksal entgangen und während einiger Augenblicke beneidete ich sie um ihren Tod, der so friedlich erschien. Mehr recht als schlecht stand ich auf und bewegte mich, um wieder etwas warm zu werden. In der Dunkelheit bemerkte ich einen unbewachten Wagen, der mit Lebensmitteln bepackt war. Ohne mich groß um das Risiko zu scheren griff ich hinein und nahm mir ein Brot, das ich schnell in meinem Beutel verschwinden ließ.

Frühmorgens traf ich Se’ew und unseren gemeinsamen Freund Ignaz. Am Abend desselben Tages trieb uns die SS mit Gewehrkolbenschlägen – wie üblich hatten sie ihre Hunde dabei – in offene Kohlewaggons. Dabei brüllten sie ständig: „Schnell, schnell.“

In den vollgestopften Waggons konnte man sich kaum bewegen. Trotzdem schaffte es ein kräftiger Russe, sich zwischen meine Beine zu setzen. Heimtückisch zwickte er mir in die Waden. Weil kein Platz da war, konnte ich ihm nicht ausweichen. Von diesem Mann sah ich nichts als seinen kräftigen Nacken und ich hatte Angst, dass er mir meinen kostbaren Brotbeutel wegnehmen könnte. Dieser Irre war zu allem fähig. Ihm ist es zu verdanken, dass sich meine Flucht beschleunigte. Ich wandte mich an Se’ew, der sich in meiner Nähe befand, und der bald bereit war mir zu folgen. Ignaz, der sich zu schwach fühlte, winkte ab, weil er befürchtete eine Last für uns zu sein.

Unsere Nachbarn hörten unsere Unterhaltung, und gaben ihren Senf dazu — plus einer Einschätzung der Erfolgschancen unseres Vorhabens:

„Ihr seid ja komplett meschugge.“

„Und wohin wollt ihr gehen, bei der Kälte und dem Schnee?

„Und überhaupt, wohin wollt ihr in diesem verfluchten Land?“

Andere sagten:

„Man sollte sie nicht abhauen lassen. Sie werden uns wegen dieser gewissenlosen Figuren noch alle erschießen.“

Schließlich selbstsüchtig:

„Aber wenn sie gingen. Das würde uns etwas mehr Platz verschaffen.“

Ein Zug stand auf dem Nachbargleis. Auch unser Zug wurde langsamer. Ohne weiter auf das zu achten, was die anderen sagten, marschierte ich buchstäblich über ihre Köpfe hinweg zum Rand des Waggons. Plötzlich trieb mich ein ungeheurer Willen. Ich sprang ins Leere. Der Aufprall wurde durch die dicke Schneedecke abgebremst.

Ich duckte mich unter die stehenden Waggons und sah wie sich der Zug entfernte, ohne dass Se’ew auftauchte. Mich überkam Panik. Die plötzliche Angst alleine zu bleiben, löste für Sekundenbruchteile den abwegigen Impuls aus loszurennen, um wieder bei meinen unglücklichen Kameraden zu sein, wieder in dem Zug, dessen rote Schlusslichter nun in der Ferne verschwanden. Dann bekam ich mit, wie sich etwas im Schnee bewegte: es war Se’ew. Die Zeit, die zwischen meinem und seinem Sprung vergangen war, erschien mir endlos. Das Abenteuer, das uns nun bevorstand zu zweit anzugehen, gab dann doch etwas mehr Kraft und Mut!

Es stimmt, dass ich in der Hoffnung floh zu überleben, aber es gab auch eine andere Triebfeder: ich wollte im Falle eines Scheiterns meinen Tod selbst gewählt haben. Ich wollte diese Welt in etwa so verlassen, wie es ein Soldat tut, der auf dem Schlachtfeld stirbt... Dieser Ausweg schien mir bei weitem attraktiver als der, der in Wirklichkeit für uns vorgesehen war.

Mehrere Tage lang marschierten wir durch den Wald. Wir konnten nur hoffen, dass wir uns in Richtung Osten bewegten. Wir hatten beschlossen, abwechselnd zu schlafen, aber kaum dass wir uns niedergelegt hatten, fielen wir in tiefen Schlaf. Es war das Zittern von Se’ew, das mich wieder aufweckte. Heftig schüttelte ich ihn; dieses Nickerchen hätte sein letztes sein können. Wir standen vorsichtig auf, unsere Gliedmaßen waren sämtlich eingeschlafen, fühlten sich taub an und schmerzten gleichzeitig. Mit großen Schwierigkeiten rissen wir unsere Decken vom Boden los, wo sie angefroren waren.

Zu trinken hatten wir nur den Schnee, den wir in unseren Händen zum schmelzen brachten. Sparsam aßen wir von dem Brot, dass man nur noch auseinanderbrechen konnte, so hart war es geworden. Langsam und vorsichtig gingen wir weiter — mit dem Gefühl durch eisige Watte zu laufen, im Wortsinne betäubt durch die Kälte.

Wir mussten so schnell wie möglich aus dem verschneiten Wald herauskommen. Vorsichtig näherten wir uns der Straße, um dort nach Hilfe Ausschau zu halten. Es tauchte eine einzelne Frau auf und trotz der Angst verraten zu werden, gingen wir auf sie zu. Natürlich erschreckte sie unser Erscheinen, aber Se’ew schaffte es, sie auf Polnisch zu beruhigen und ihr unsere Notlage zu schildern. Betroffen versprach die tapfere Bauersfrau uns zu helfen und uns etwas zu essen zu bringen. Sie hielt ihr Versprechen und kurze Zeit später kam sie aus ihrem nahen Dorf zurück und brachte uns zwei große Flaschen mit warmem Milchkaffee und mit Schweineschmalz bestrichene Brote mit. Dieses warme Getränk und diese erste echte Mahlzeit retteten uns. Überrascht lächelnd nahm die Frau an unserer Freude teil. Sie schien zu verstehen und Mitgefühl zu haben.

Welch unverhofftes Glück, dass wir sie auf dem Weg getroffen hatten. Tapfere und mutige Unbekannte, ob sie wohl weiß, dass wir ohne sie wahrscheinlich gestorben wären? Als sie ging, versprach sie uns, dass einer ihrer Nachbarn, ein Freund, uns abholen kommen und uns für die Nacht aufnehmen würde. Wir vertrauten ihr und warteten aufgemuntert und geduldig auf ihn.

Als es Nacht wurde, kam ein Bauer mit seinem Karren und lud uns auf. Er brachte uns zu sich nach Hause und erklärte Se’ew, dass seine Nachbarin ihn gebeten hatte, gut für uns zu sorgen und uns reichlich zu essen zu geben. Es tat so gut in dem Zimmer auf dem kleinen Bauernhof zu sein, wo ein Ofen es etwas warm machte. Auf dem Tisch wartete eine dampfende Schlüssel mit Kartoffeln und Speck auf uns. Se’ew und ich saßen uns gegenüber und lachten und freuten uns über das Festessen. Wir verschlangen alles bis auf das letzte Stückchen.

Der brave Mann war angesichts unseres Heißhungers völlig verdutzt. Ständig wiederholte er auf polnisch dieselben Worte:

„Mein Gott, mein Gott,...“

Satt und glücklich verbrachten wir die Nacht im Warmen und erholten uns in einem tiefen Schlaf. Beim Aufstehen gab uns der brave Mann noch zivile Kleidung, die sehr abgetragen war, aber immer noch besser als unsere gestreiften Anzüge, in denen man uns schon von weitem als Häftlinge erkennen konnte. Er bat uns zu gehen, ohne uns blicken zu lassen. Die Anwesenheit deutscher Soldaten im Dorf beunruhigte ihn und uns auch. Überschwänglich bedankten wir uns bei ihm. Wir verließen den gastfreundlichen Hof und versteckten uns wieder im Wald.

Die Front kam schnell näher. Der Lärm der Geschütze und die Salven aus den Maschinengewehren wurden immer lauter. Jeden Augenblick befürchteten wir, uns deutschen Soldaten auf dem Rückzug gegenüber zu sehen. Ganz vorsichtig kehrten wir in der Nacht in das Dorf zurück. Wir stahlen uns in einen Kohlenbunker, teilten die Wache auf und schliefen dort.

Im Morgengrauen wurden wir durch russische Stimmen aufgeschreckt. Wir kamen aus unserem Versteck und sahen uns einer Patrouille junger russischer Soldaten gegenüber, die uns mit Misstrauen begegneten. Glücklicherweise gelang es Se’ew auf Polnisch, in das er einige russische Brocken mischte, ihnen unsere Anwesenheit zu erklären und ihnen Vertrauen einzuflößen. Mein Freund und ich, wir umarmten uns und dankten den jungen und mutigen Soldaten, die uns die Freiheit zurückgegeben haben.

Oben auf einem Panzer nahmen sie uns in die Stadt Gleiwitz mit, die sie soeben erobert hatten. Wir waren endlich frei und unseren Rettern unendlich dankbar. Wir waren wie betrunken, diesen so lange erwarteten Moment endlich zu erleben - trunken vor Glück.

Die Schlacht war noch im Gange und so verließen wir so schnell wie möglich die brennende Stadt. Krakau, Se’ews Geburtsort, lag einige hundert Kilometer zurück in Richtung Osten. Er war sicher, dass er dort noch Freunde wiederfinden würde, die bereit sein könnten, uns zu helfen. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg, manchmal gelang es uns, mit einem Lastwagen mitgenommen zu werden. Wir zogen bettelnd von Hof zu Hof, baten um etwas zu essen und einen Schlafplatz für die Nacht.

Als wir eines Morgens einen Bauern verließen, der uns beherbergt hatte, fragte er uns in einem spöttischen Ton:

„Sagt mal ihr beiden, ihr habt doch bestimmt etwas zu verkaufen?“

„Nichts,“ war die trockene Antwort von Se’ew.

„Das ist das erste Mal, dass ich Juden sehe, die nichts zu verkaufen haben.“

Se’ew wurde blass vor Wut. Als er mir erklärte was los war, verstand ich seine Empörung. Die Nazis, die Besatzer, die gerade erst vertrieben worden waren, hatten sich darauf verstanden, den polnischen Antisemitismus auf ihre Weise zu nähren.

Nach diesem Zwischenfall gelangten wir zu der Auffassung, dass es klüger wäre, nicht zu sagen, wo wir herkamen. Ich gab mich als Franzosen aus und Se’ew als reiner Pole und wir sprachen nur noch flüsternd deutsch und auch nur, wenn wir sicher waren, alleine zu sein.

Schließlich kamen wir nach Krakau, das erst vor kurzer Zeit befreit worden war. Glücklicherweise fand Se’ew seine Freunde wieder, die uns herzlich in ihrer gut ausgestatteten Wohnung empfingen. Keinerlei Spuren des Krieges waren sichtbar, es schien ihnen nichts passiert zu sein. Schlagartig wurde mir bewusst, dass das Leben nur für uns, die wir nach Auschwitz gekommen waren, stehengeblieben war. Außerhalb der Lagertore war es weitergegangen, scheinbar unberührt von unseren Leiden.

Kaum angekommen, erfuhr Se’ew von seinen Freunden, dass seine Schwester noch lebte. Er war überrascht und tief bewegt. Sie war zur gleichen Zeit wie er aus dem Ghetto von Bochnia deportiert worden, auch nach Auschwitz. Als alle anderen ausgeladen wurden, gelang es ihr, sich zu verstecken und mit demselben Zug wieder aus dem Lager herauszufahren. Mit der Hilfe des polnischen Widerstandes und nach recht vielen Schwierigkeiten kam sie 1943 in Palästina an. Se’ew frohlockte. Seine Schwester war eine echte Heldin. Sie war eine Ausnahme von der Regel. Er brannte vor Ungeduld, sie so schnell wie möglich wiederzutreffen. In Palästina ging er dann zur Armee und nahm an der Gründung des Staates Israel teil.

Während der Wochen unserer Genesung in Krakau wanderten unsere Gedanken oft voller Angst zu denen, die in dem Zug geblieben waren, als wir absprangen. Wir dachten an alle die Misshandlungen, die sie zweifellos noch erleiden mussten.

In Krakau war nichts für unseren Empfang organisiert worden. Wir standen den ganzen Tag Schlange, um Brot zu kriegen, das von einer Wohltätigkeitsorganisation verteilt wurde. Ich weigerte mich, weiter als Bettler zu leben. Wir mussten, koste was es wolle, Arbeit finden.

Se’ews Freunde liehen uns einen Wagen und ein Pferd; so gründeten wir ein Umzugsunternehmen. Schon am ersten Tag ließen wir einen Schrank oben von einer Treppe herabstürzen. Ihn die Stufen herunterdonnern und unten am Ende seines Falls auseinander krachen zu sehen, setzte diesem ersten Versuch schnell ein Ende. Wie sich gezeigt hatte, waren wir für dieses Metier noch nicht kräftig genug.

Wir mussten eine Arbeit finden, die unseren Körperkräften angemessener war. Natürlich waren wir zu allem bereit. Schließlich halfen wir Freunden Se’ews in ihrem Geschäft. Mit dem ersten Geld, das ich verdiente, kaufte ich auf dem Flohmarkt ein Paar Schuhe mit dreifacher Sohle, allerdings waren sie vier Nummern zu groß. Welche Freude, endlich trockene Füße zu haben!

Als sie flohen, mussten die Deutschen viele Wohnungen aufgeben, die sie besetzt hatten. Wir profitierten davon, indem wir uns in einer dieser leeren und völlig ausgeplünderten Wohnungen einrichteten. Über die Tür hängten wir einfach einen Zettel mit der polnischen Aufschrift „Wohnung besetzt“.

Nach meiner Ankunft ließ ich mich durch die sowjetischen Behörden registrieren. Als einzigen Beweis meiner Identität konnte ich die Tätowierung aus Auschwitz vorzeigen.

Ich fand sehr schnell heraus, dass ich, wenn ich nach Frankreich wollte, um meinen Vater wiederzufinden, unbedingt meine Geschichte ändern musste. Wenn ich bei den Tatsachen geblieben wäre, hätte man mich nach Österreich zurückgeschickt. Bei meiner Rückkehr in das sowjetische Büro achtete ich darauf, nicht an denselben Beamten zu geraten. Diesmal erklärte ich, dass ich Franzose sei, Paul Crayol heißen würde, und in Revel geboren wäre. So nahm ich, ohne ihn je getroffen zu haben, die Identität des Mannes an, vor dem ich so viel Hochachtung hatte.

Zu meinem Bedauern musste ich mich schlagartig von meinem lieben Gefährten trennen und zu den französischen Kriegsgefangenen, einigen wenigen Deportierten und den französischen Zivilarbeitern umziehen, die man in einer Kaserne unter sowjetischer militärischer Bewachung untergebracht hatte. Der Schmutz und die Enge erinnerten mich dann doch zu sehr an die schlechten, noch frischen Erfahrungen, die ich in Auschwitz gemacht hatte. Da ich nun schon einmal abgehauen war, unterdrückte ich das Verlangen auf 's Neue zu fliehen nicht. Ich „machte die Fliege“, um in „unsere Wohnung“ zurückzukehren. Danach ging ich regelmäßig in die Kaserne, um zu fragen, wann denn endlich die Rückkehr stattfinden würde. Mir war durchaus bewusst, dass der Begriff Heimführung (Repatriierung) in meinem Fall nicht zutraf.

Am 15. April 1945 verließ ich endlich die Stadt Krakau. Der Abschied von Se’ew sollte nicht endgültig werden. Wir versprachen uns wiederzusehen, wann immer das möglich wäre. Seit dem haben wir uns tatsächlich nie mehr aus den Augen verloren.