Flucht nach Belgien und Ankunft in Frankreich

 

Nach dem wir vorher vergeblich versucht hatten, ein Visum für ein Land zu bekommen, das bereit gewesen wäre, uns aufzunehmen, beschleunigte das Novemberpogrom unsere Flucht.

Es blieb uns nur eine Möglichkeit, nämlich illegal über die Grenze nach Belgien zu gehen, wo sich bereits Freunde aus Wien befanden. Sie hatten Papa einen genauen Plan geschickt, welchen Weg wir nehmen sollten. Glücklicherweise gelang es meinem Vater, einen Container mit persönlichen Sachen nach Brüssel zu schicken.

Es war unmöglich, meine alte und schwache Großmutter einem derartigen Abenteuer auszusetzen. Mama vertraute ihre Mutter einem Paar an, dass wegen seines Alters in Wien bleiben wollte. Als der Moment gekommen war, trennten sie sich schweren Herzens. Sie befürchteten, dass sie sich nie wiedersehen würden und dass der Abschied ein endgültiger sein könnte.

Meine Großmutter starb am 18. Dezember 1941 und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Wien nicht weit von ihrem Mann bestattet. Im Gegensatz zu den Opfern der Shoah hat sie einen Grabstein.

Der 27. November 1938 war der Tag meines vierzehnten Geburtstages. Wir hatten Staatenlosenpässe, die mit einem Hakenkreuz versehen waren. Als Bürger Österreichs wurden wir nicht mehr anerkannt. In den Taschen hatten wir bloß die zwölf Dollar pro Person, die erlaubt waren. Ausgestattet mit wenig Gepäck, das nur das absolut Notwendige enthielt, schlossen meine Eltern früh am Morgen still und traurig die Tür hinter einer glücklichen Vergangenheit. Wir verließen Wien, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Das Hab und Gut, das wir zurückließen, bedeutete uns wenig. Der einzige Reichtum, den wir nun für immer mit uns trugen, war die Erinnerung an ein harmonisches und glückliches Familienleben. Wir waren neu eingekleidet, so hatten wir das Geld, das wir nicht mehr mitnehmen durften, wenigstens möglichst sinnvoll ausgegeben.

Nach dem Plan unserer Freunde nahmen wir einen Zug nach Aachen und eine Straßenbahn, die uns möglichst nah an die Grenze bringen sollte. Wir versuchten dann durch einen Wald zu kommen, der Deutschland und Belgien trennte. Sehr schnell wurde unser „Ausflug“ von deutschen Grenzbeamten gestoppt, die uns durchsuchten. Einer zog meine Briefmarkensammlung aus meiner Tasche. Er glaubte ein „Vermögen“ gefunden zu haben, das wir außer Landes schmuggeln wollten und untersuchte minutiös Briefmarke um Briefmarke. Dabei war es doch nur die Sammlung eines Kindes!

Meine Sammlung hatte ich ohne Erlaubnis meiner Eltern mitgenommen. Ertappt sah ich, wie mein Vater das Ganze mit Unruhe beobachtete. Er hatte an seinem Körper Wertsachen versteckt und fürchte eine gründlichere Untersuchung. Mir war damals nicht klar, in welche Gefahr ich die ganze Familie gebracht hatte. Als es Abend wurde, ließen sie uns laufen, und ohne weitere Zwischenfälle gelang es uns, die belgische Grenze zu überqueren und an einem kleinen Bahnhof einen Zug nach Brüssel zu nehmen.

Mutter verteilte nun Brote, die sie zu Hause vorbereitet hatte. Obwohl ich Hunger hatte, weigerte ich mich nachdrücklich, mein Brot anzunehmen. Es war mit Wurst belegt, die nicht koscher war. Die rituelle jüdische Art Tiere zu schlachten (das Schächten) war von den Nazis verboten worden, weil sie angeblich dem Tierschutz widersprach. Nun, da ich in einem freien Land war, wollte ich die religiösen Vorschriften befolgen. Es war ein Versprechen, das ich meine Großmutter gegeben hatte.

Unsere Wiener Freunde, die Grünblatts, empfingen uns herzlich. Sie waren froh, uns gesund und munter wiederzusehen. Ihr überwältigender Empfang tröstete uns. Sie hatten eine winzige Drei-Zimmer-Wohnung, in der sie zu viert schon recht beengt lebten. Trotzdem boten sie uns ihre Gastfreundschaft an. Wir schliefen bei ihnen auf Matratzen auf dem Boden, solange wir eine eigene Wohnung suchten.

Den größten Teil des Tages verbrachten wir auf der Straße. Wir reckten die Hälse, um nach Schildern mit der Aufschrift „Wohnung zu vermieten“ Ausschau zu halten. Das erlaubte uns, nähere Bekanntschaft mit dieser schönen Stadt zu schließen, die so anders war als Wien. Wir waren an trockene, kalte Winter gewohnt, hier fiel fast ununterbrochen ein feiner Nieselregen. Meine neuen Schuhe ließen schließlich das Wasser durch und meine Socken waren die ganze Zeit feucht.

Endlich fanden wir ein kleines, typisch belgisches Haus in dem angenehmen Stadtteil Ixelles. Eifrig packten Erika und ich den Container aus, der inzwischen eingetroffen war. Aber in unsere Aktivitäten mischte sich eine gewisse Wehmut, die auf unsere neue Situation als Flüchtlinge zurückzuführen war. Nachdem wieder einigermaßen Ruhe einkehrte, versuchten wir ein annähernd normales Leben zu führen. Die Belgier waren zuvorkommend und höflich, ganz anders als die Österreicher, die wir gerade verlassen hatten.

Mit meiner Schwester zusammen entdeckte ich die großen Geschäfte. Wir waren fasziniert von den Auslagen mit den vielen verschiedenen Früchten, die es hier auch im Winter gab, sogar Erdbeeren und Kirschen! Es gab knallgrüne Äpfel der Sorte „Granny Smith“ und vor allem auch Datteln, meine Lieblingsfrüchte. Sie wurden hier zu einem lächerlichen Preis pro Kilo verkauft, während man sie in Wien als „exotisch“ nur stückweise bekommen hatte. Ich habe Datteln gegessen, bis mir schlecht wurde. Belgien schwamm im Überfluss.

Eine andere anziehende Entdeckung war das „Kino ohne Ende“. Für einen Franc hatte man in Brüssel das Vergnügen, einen Film gleich mehrmals zu sehen, während es in Wien ausschließlich nummerierte Plätze gab und man nur für eine Vorstellung bleiben durfte. Weil ich außerdem noch zu jung war, bin ich nur selten ins Kino gegangen. Hier gewährten mir meine Eltern mehr Freiheit. Der kleine Junge, der Wien verlassen hatte, wurde nun zum Jugendlichen.

Nach einem Test hatte ich das Glück an einer technischen Schule angenommen zu werden, zu der nur etwa hundert Schüler zugelassen wurden. Die Lehrer waren ebenfalls Flüchtlinge, einige sogar ehemalige Professoren deutscher und österreichischer Universitäten. Es zeigte sich, dass durch ihre Anwesenheit die Anforderungen sehr hoch gesetzt wurden. Unsere Unterrichtszeit von acht Stunden am Tag sollte uns möglichst umfassende Kenntnisse in Englisch, Spanisch und Französisch vermitteln. Nicht zu vergessen sind Physik, Mathematik und technisches Zeichnen. Das Ziel war es, uns eine möglichst breit angelegte Grundlage zu vermitteln, auf der wir uns später weiterbilden konnten. Ich bin den Lehrern ausgesprochen dankbar für alles, was sie uns beigebracht haben. Mir hat es im weiteren Leben sehr geholfen.

Auch Erika ging weiter zur Schule. In Antwerpen nahm sie mit sechszehn an ihrem ersten Ball teil und gewann einen Schönheitspreis. Meine Eltern waren natürlich stolz, aber ich war nicht mal erstaunt, denn ich hatte meine Schwester schon immer sehr schön gefunden.

Nach dem Überfall auf Polen erklärten Frankreich und England am 3. September 1939 Deutschland den Krieg. Sie hatten wegen ihrer vertraglichen Verpflichtungen kaum eine andere Wahl. Bis zum Mai 1940 blieb es an der deutsch-französischen Grenze relativ ruhig, keine der Kriegsparteien ging in die Offensive. Diese Zeit wurde „drôle de guerre“ (komischer Krieg) genannt. In Frankreich war die Meinung weit verbreitet: „Wir werden siegen, weil wir die Stärkeren sind.“ Wir waren davon überzeugt, dass die alliierten Streitkräfte und deren Luftwaffe unbesiegbar wären.

Die scheinbare Ruhe fand am 10. Mai 1940 ihr Ende, als die Deutschen in die Benelux-Staaten einmarschierten, um die berühmte Maginot-Linie zu umgehen, die man bis zu diesem Zeitpunkt für unüberwindbar gehalten hatte.

Gegenüber unsrer Brüsseler Wohnung befand sich eine Feuerwehrkaserne. Als meine Eltern sahen, wie die Feuerwehrleute ihre Familien in Sicherheit brachten, beschlossen sie ihrerseits Brüssel „provisorisch“ zu verlassen. Jeder mit einem kleinen Koffer mit dem Allernotwendigsten ausgerüstet, machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Wir dachten, wir würden nur kurze Zeit wegbleiben.

Die Straßen waren verlassen. Von Zeit zu Zeit heulten Sirenen, die anzeigten, dass feindliche Flugzeuge die Stadt überflogen. Auf dem Bahnhof wimmelte es hingegen von Menschen. Man drängelte sich vor den Schaltern, um Fahrkarten zu kaufen. Klugerweise besorgte mein Vater Bahnsteigkarten, damit wir uns in einen Zug nach Paris setzen konnten. Er dachte, er könne unterwegs Fahrkarten kaufen, aber der Zug änderte seine Richtung und kein Schaffner ließ sich blicken.

Nach mehreren Tagen auf der Reise verflüchtigte sich die Vorstellung, wir wären nur vorläufig aus Brüssel abgereist. Wir waren noch im Ungewissen über die Entwicklung des Krieges, als unser Zug mit etwa tausend Flüchtlingen in Südfrankreich stehenblieb, etwa fünfzig Kilometer von Toulouse entfernt. Der malerische mittelalterliche Ort hieß Revel. Seine Ursprünge lagen im Jahr 1342. Jetzt zählte er 5 000 Einwohner. Dort kam ich zum ersten Mal mit Frankreich in Berührung.

Der Waffenstillstand, der im Juni 1940 geschlossen wurde, sah vor, dass Frankreich in zwei große Zonen geteilt wurde. Glücklicherweise befand sich Revel in der von der deutschen Wehrmacht nicht besetzten Zone, die von der sogenannten Vichy-Regierung unter dem Marschall Philippe Pétain als Staatschef geleitet wurde.

Unter einer heißen Sommersonne waren am Bahnhof zahlreiche neugierige Einwohner versammelt. Die meisten Frauen waren schwarz gekleidet und sprachen mit einem südlichen Dialekt, der in meinen Ohren spanisch klang. Unter diesen Menschen befand sich Pauline Sarda. Als wir aus dem Zug ausstiegen, schlug sie meinen Eltern spontan vor, Erika und mich für die Nacht zu sich zu nehmen, damit wir nicht im Stroh schlafen mussten. Die örtliche Verwaltung hatte für die großen Mengen von Flüchtlingen Scheunen beschlagnahmt.

Als sie uns zu ihrem Haus brachte, trafen wir eine Dörflerin, die ihr mit einem bösartigen Unterton sagte:

„Es scheint, dass viele Juden unter den Flüchtlingen sind!“

Unwissen ist oft eine Quelle von Angst, manchmal sogar von Feindseligkeit! Das war ein echter Schock, wir hatten so wenig damit gerechnet eine solche Bemerkung in diesem entlegenen Südwesten Frankreichs zu hören. Als sie uns ihrer Nachbarin Louisette Crayol vorstellte, wiederholte Pauline Sarda ihr gegenüber, was sie gerade gehört hatte.

„So wie es aussieht, sind Juden unter allen diesen Leuten. Ist das möglich?“

„Ich verstehe deinen Schrecken nicht, Pauline. Du scheinst vergessen zu haben, dass auch unser Herr, Jesus Christus, Jude war.“

Nach dem fühlten wir uns etwas wohler und empfanden eine lebhafte Zuneigung für Louisette Crayol. Wir nannten sie „Tata“ (Tantchen), genau wie die vielen anderen Kinder, die sie umgaben. Als unsere Beziehung enger geworden war, fragte ich sie, was sie denn zu ihrer Antwort bei unserm ersten Treffen gebracht hatte. Sie erklärte mir, dass sie als ebenso strenge Katholikin wie Pauline deren Befürchtungen hatte zerstreuen wollen, und dass dieser Gedanke ihr ganz selbstverständlich gekommen wäre.